In eisigen Kerkern (German Edition)
und markierte das Loch.
„Sonst hast du niemanden?“
„Niemand, für den sich eine Rückkehr lohnt jedenfalls.“
Sie drückte mit dem Fingernagel das Ventil und ließ die Luft aus dem Schlauch.
„Und die Tochter, weiß die...?“
„Dass ich zurückkomme? Die weiß nicht mal, dass ich noch lebe. Das lässt mich auch ein bisschen zögern, weißt du. Ihre Reaktion, wenn ich plötzlich vor ihr stehe, könnte auch anders ausfallen als ich mir das erhoffe.“
„Hmhm, verstehe. Aber mal abgesehen davon, wovon willst du leben? Wovon hast du die letzten sieben Jahre gelebt?“
„Ich hab ein Bankkonto, das inzwischen fast geplündert ist, und hab unterwegs gejobbt.“
„Das kann aber wirklich nicht ewig so weitergehen. Du hast wahrscheinlich nach der langen Zeit keinen Anspruch auf Sozialleistungen mehr und kriegst irgendwann nur eine ganz mickrige Rente.“
Nelli raute mit dem kleinen Sandpapierstreifen am Flickzeug den Schlauch um das Loch herum auf und hatte für einen Moment das Gefühl, mit ihrem verstorbenen Mann zu sprechen.
„Ich weiß, und deshalb will ich auch... - na ja, ich denke mir, dass meine Erlebnisse vielleicht viele Leute interessieren. So wie dich. Ich könnte ein Buch aus meinem Tagebuch machen.“
„Find ich gut, die Idee“, rief Andi. Er hielt das Tagebuch wie einen Siegespokal in die Höhe und verkündete unpassend laut und triumphierend: „Vielleicht halte ich hier einen künftigen Bestseller in den Händen. Als erster Außenstehender überhaupt.“
Nelli nickte und fühlte sich elend. Sie verteilte den Kleber über die aufgeraute Stelle.
Einwirkzeit eine Minute.
Sie zählte in Gedanken: 60, 59, 58...
„Es wäre so toll, wenn du mir was vorliest. Wenigstens eine Passage. Vielleicht vom Himalaja. Warst du da?“
...49, 48, 47...
„Ja, aber das gehört nicht unbedingt zu den Highlights.“
„Was?! Na, aber hör mal! Ich stell mir die Bergwelt dort grandios vor. Die Gletscher müssen einfach gigantisch sein.“
...34, 33, 32...
„Das schon, ja, landschaftlich ist das die Wucht. Aber spannende Geschichten gab es eher an langweiligen Orten.“
„Erzähl mal.“
...19, 18, 17...
„Zum Beispiel Eureka, Nevada, ein gottverlassenes Wild-West-Kaff. Die hatten noch nicht mal Geldautomaten. Also geh ich an den Schalter – und gerate mitten in einen Banküberfall!“
„Unglaublich!“
„Ja, und zwar mit Geiselnahme, vollem Polizeiaufgebot, Verhandlungen über Megaphon, alles wie in einem Film. War aber leider echt.“
„Und, wie fühlt man sich da?“
...5, 4, 3, 2, 1.
Nelli zog den Plastikschutz vom Flicken und drückte ihn auf die kleberbestrichene Stelle über das Loch.
„Du glaubst nicht, wie schnell man da umschaltet. Die Gefahr ist plötzlich Normalität, und alles, was davor war, ist vergessen. Natürlich hat man Angst. Aber man handelt auch ganz überlegt. Alles wird viel bewusster und klarer. Kommt mir im Nachhinein fast so vor, als sei ich nie so hellwach und scharfsinnig gewesen wie in dieser halben Stunde.“
„Und, wie ging es dann aus?“
Mit flinken Fingern befestigte Nelli das Ventil an der Felge und drückte den Schlauch in den Reifen.
„Ach, ganz unspektakulär. Die drei Kerle haben eine Weile diskutiert und dann beschlossen aufzugeben. Keine Schießerei, niemand wurde verletzt. Aber die Polizei ist elend brutal mit denen umgesprungen. Ich dachte schon, die knüpfen sie am nächsten Baum auf.“
„Und, hat dich das alles verändert?“
„Ja, schon. Auf jeden Fall.“
Sie drückte den Reifen auf die Felge so weit es mit den Fingern ging und nahm dann die Schraubenschlüssel als Hebel.
Er sah sie erwartungsvoll an. Als Nelli diesen Blick sah, ganz versunken, ganz auf das gerichtet, was sie sagte, begriff sie, dass sie ein Publikum für sich einnehmen konnte. Dieser Blick tat gut, er gab ihr Energie, sie fühlte sich glücklich und beflügelt. Die Spannung war spürbar, es funktionierte.
Sie lächelte ihn an und genoss es, mit der Wirkung ihrer Geschichte zu spielen.
„Jetzt willst du natürlich wissen, inwiefern.“
Er nickte langsam und aufmerksam.
„Ich war schon einige Monate in Amerika unterwegs, als ich in diese Bank ging. Ich wollte weiter Richtung Süden, keine Ahnung wohin, vielleicht Südamerika, vielleicht auch noch ein bisschen durch die USA gondeln, ich war völlig ziellos und ohne Zeitvorstellung. Das hat sich schlagartig geändert. Seit diesem Erlebnis bin ich auf der Rückreise, nicht eilig, aber
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