In eisigen Kerkern (German Edition)
zielgerichtet.“
„Du hast wahrscheinlich begriffen, dass es jederzeit vorbei sein kann und dass vielleicht zu Hause noch sinnvolle Aufgaben auf dich warten.“
Nelli schob das Rad auf die Gabel und zog die Mutter fest. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich hab ja keine Ahnung, was ich nach dieser Tour anfangen soll. Das mit dem Buch oder einer Vortragstournee ist so eine Art einzige Möglichkeit, aber kein echtes Ziel. Eher ein Scheingrund, damit da überhaupt was ist, das ich als Perspektive habe.“
„Was ist es dann?“
Sie steckte den Noppen der Luftpumpe aufs Ventil und fing an zu pumpen.
„Das würde jetzt wirklich zu weit führen, Andi. Da reicht auch eine Stunde nicht.“
„Ich kann’s mir schon denken.“
„Das glaube ich nicht.“
Nelli prüfte den Luftdruck. Würde reichen, um abzuhauen, aber sie pumpte weiter, bis der Reifen steinhart war.
Andi hatte immer noch nichts erwidert. Sie schaute ihn an und las in seinem Blick nicht vorgegebenes, sondern wirkliches Verständnis, und das berührte sie tief. Sie drückte sich aus der Hocke hoch, streckte sich die Verspannungsschmerzen aus den Beinen und ging einen Schritt auf ihn zu.
„Also, jetzt sag schon, was du denkst.“
„Das lässt sich wirklich nicht in ein paar Worten ausdrücken.“
Er schaute sie an, hilflos, und statt einer Antwort reichte er ihr das Tagebuch.
Nelli fühlte sich beschämt. Sie nahm das Buch entgegen und hatte es auf einmal überhaupt nicht mehr eilig, damit zu verschwinden.
„Versuch’s in ein paar Sätzen.“
„Hm. Es gab mal eine Zeit, da wollte ich diesem Berg hier entkommen. Meine Eltern haben den Betrieb nach dem Krieg aufgebaut, weißt du, und ich war das einzige Kind. Ich wollte den Laden nicht übernehmen und die meiste Zeit in der Einsamkeit hier oben hocken. Ich wollte raus in die Welt, dann würde sich bestimmt alles ändern, was mich hier bedrückte.“
„Und?“
„Gar nichts ändert sich. Es sind ja nicht die Orte oder Menschen, vor denen man davonläuft. Ich glaube eher, man wird an bestimmten Orten geboren, weil sie in Resonanz zum Schicksal stehen, das man hier durchzustehen hat. Weglaufen zögert es nur hinaus, dass dieses Schicksal sich Bahn bricht, aber verhindert es nicht.“
„Was meinst du damit? Was wird hinausgezögert?“
„Die Aufgabe, die man zu erfüllen hat.“
„Und wenn man die gar nicht kennt?“
„Die kennt man immer.“
„Woran?“
„Es ist meistens das, was man an sich hasst und abstoßend findet und verdrängen und loswerden will. Die Aufgabe ist, damit ins Reine zu kommen und zu tun, was man eigentlich nicht tun will, kompromisslos. Dann ist das Schicksal erfüllt.“
Nelli schaute ihn an und zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne.
„Ist es das, was du in Eureka begriffen hast, Nelli?“
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf, betrachtete sein Gesicht und versuchte zu wittern, ob Gefahr von ihm ausging.
„Wenn ich noch eingeladen bin, dann würde ich jetzt doch für eine Stunde mit reinkommen. Aber nur, wenn ich für Essen und Trinken bezahle.“
Er lächelte.
„Meinetwegen, ich kann Umsatz brauchen.“
Nelli lächelte zurück, und auf einmal konnte sie nicht mehr verstehen, wie sie diesen etwas verschrobenen, aber offenbar harmlosen Kerl als bedrohlich hatte empfinden können.
„Aber, komm, das Fahrrad stellen wir drüben am Haus ab.“
Nelli nickte, nahm es vom Ständer und schob es, neben Andi herlaufend, zum Haus.
Auf einmal wollte sie all das, was sie aus Angst abgewehrt hatte, unbedingt: eine kräftige Brotzeit, mindestens einen Liter Apfelschorle, ein heißes Bad, frische Kleidung und ein warmes Bett. Sie fühlte sich so hungrig und abgekämpft, dass sie meinte, auf dem Weg zum Haus würden ihr die Beine wegknicken. Sie brauchte diese Pause dringend. Der Weg ins Tal in diesem Zustand hätte schlimm enden können. Schlimmer konnte es mit Andi hier oben auch nicht werden.
Sie schlief ein.
Kaum hatte sie ihre große Packtasche mit dem Tagebuch auf die Eckbank in der Wirtsstube gestellt, sich daneben gesetzt und kurz die Augen geschlossen, war sie auch schon weggedämmert.
Sie wachte auf, weil jemand an ihrer Schulter rüttelte.
„Nelli? Tut mir leid, dich zu wecken.“
Sie zwinkerte und brauchte ein paar Sekunden, um die Gegenwart einzuholen. Vor ihr standen ein großer Teller mit Schinken, Käse und Broten, ein Literkrug Schorle und dahinter drei brennende Kerzen.
„Am besten, du isst erst mal. Das Bad braucht noch eine
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