In eisigen Kerkern (German Edition)
durch, dann scheuert es nicht so.“
„Sehr fürsorglich.“
„So, jetzt noch was für obenrum.“
Wie gefordert, bekam sie eines ihrer Sweatshirts, zog es an und wartete.
„Was ist mit Schuhen?“
Andi schüttelte den Kopf.
„Leg die Badetücher unter, das wärmt genauso.“
Er setzte sich auf seinen Drehstuhl, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sah sie prüfend an und fragte schließlich:
„Warum willst du nicht mehr leben, Nelli?“
Ihr Herz schlug schneller. Sie spürte Wut, vor allem aber Scham darüber, dass ausgerechnet dieser Kerl ihre intimsten Gedanken kannte. Viel schwerer aber wog, dass er jetzt eine Rechtfertigung hatte, sie zu töten.
Andi richtete den Blick zur Decke, schnaufte tief ein und stieß im Ton eines reuigen Sünders hervor:
„Ja, ja, ich hab in deinem Tagebuch gelesen, ich geb’s zu. Du hast doch sowieso nicht wirklich geglaubt, dass es rausgeschleudert wurde.“
„Was sollte dann diese blödsinnige Aktion, es wieder da oben zu deponieren und mit mir suchen zu fahren?“
„Weil ich dich unbefangen kennenlernen wollte, nicht so, wie es jetzt ist. Aber der Zug ist abgefahren. Wir können jetzt direkt zum Kern der Sache kommen.“
„Und der wäre?“
„Ich wollte mich auch mal umbringen, weil ich mit mir selbst nicht klar kam. Aber wir leben beide noch, und das muss einen Grund haben. Wir sind Seelenverwandte, verstehst du, und deshalb sollten wir reden.“
„Jeder Mensch ist irgendwann so verzweifelt, dass er sich umbringen will und tut es dann doch nicht.“
Andi lachte laut auf.
„Ja, das kann schon sein. Aber die Art, wie du es vorhattest, die ist schon einmalig.“
Nelli presste die Lippen zusammen, nickte und wandte sich ihm zu. Zwischen ihm und ihr stand der Leuchter mit seinen fünf brennenden Kerzen. Links, in ihrer Reichweite, verdeckten schwere schwarze Vorhänge das Fenster. Was, wenn es ihr gelang, den Raum in Brand zu stecken?
„Also gut, Andi, reden wir darüber. Offenbar hast du nicht sehr weit gelesen.“
„Die ersten zehn Seiten oder so.“
„Es gibt eine Stelle, die solltest du dir anschauen. Hast du das Buch hier?“
„Ja.“
„Und könnte ich vielleicht ein Stück Papier haben?“
„Wozu das denn?“
„Oder vielleicht hast du auch Taschentücher. Meine Nase läuft.“
Sofort verschwand das Misstrauen aus seinem Gesicht, und er schob ihr den kleinen Schreibblock zu, der auf seiner Seite gelegen hatte.
„Versuch’s damit. Taschentücher müsste ich erst holen.“
„Kein Problem.“
Nelli riss ein Blatt ab, schnäuzte sich lautstark, knüllte es zusammen und legte es auf den Block, was Andi mit leichtem Ekel zur Kenntnis nahm. Mit dem Fuß schob er ihr den Papierkorb unterm Schreibtisch durch, und Nelli jubilierte innerlich, als sie all das Papier darin sah.
„Nun?“, fragte sie.
Er schaute sie verständnislos an.
„Willst du die Stelle nachlesen?“
Seine Haltung spannte sich.
„Ja, sicher.“
Er beugte sich zur Seite, zog einen Schreibtisch-Schub auf und verschwand dabei für einen Moment aus Nellis Blickfeld.
„Welche Seite?“, fragte Andi, als er wieder auftauchte.
„Weiß ich nicht.“
Sie bemühte sich, ihre Freude über den Anblick des Tagebuches zu unterdrücken.
„Wie soll ich die Stelle dann finden?“
Sie machte eine auffordernde Handbewegung.
„Ich such sie für dich.“
Andi sah sie ausdruckslos an.
„Du musst mich für ganz schön bescheuert halten.“
„Wieso? Ich meine...“
„Das Tagebuch bleibt schön hier bei mir. Sag mir die Stelle.“
„Na gut, du musst im zweiten Drittel blättern. Irgendwo steht groß USA.“
Andi blätterte.
„Hier!“
„Okay, etwa 20 Seiten weiter kommt Nevada, und da suchst du dann den Abschnitt Eureka.“
„Der Banküberfall“, kommentierte Andi wissend, derweil er noch blätterte.
„Ja, der Banküberfall. Müsste so vor einem Jahr gewesen sein vom Datum her.“
„Da ist es! Darf ich die Stelle lesen?“
Nelli sah ihn verständnislos an.
„Hast du mich gefragt, ob ich dir das Buch überhaupt gebe?“
Er schaute auf, und seine Begeisterung schlug in Zorn um.
„Werd bloß nicht frech. Das war eine höfliche Frage.“
„Ja, du darfst es lesen. Aber darum geht es gar nicht.“
„Worum denn dann?“, fragte er, während er begierig las und dabei mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang fuhr.
„Zwei Tage später“, sagte sie langsam, „bin ich zu einem Arzt gegangen.“
Andi schaute interessiert
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