In eisigen Kerkern (German Edition)
Die Tür war verschlossen.
Ihre Chancen standen schlechter, viel schlechter als beim ersten Fluchtversuch, aber Nelli hatte sich bei ihrer Reise angewöhnt, jede noch so kleine Möglichkeit zu ermitteln und auszuprobieren. In diesem Fall ging es nicht mehr darum auszubrechen, sondern den Gegner zu überraschen und zu überwältigen, wenn er zurückkam.
Sie hatte den Hocker als Waffe. Sollte sie in der Wanne liegen bleiben und tot spielen? Nicht machbar, schon jetzt zitterte sie unkontrolliert. Also erst mal raus und abtrocknen.
So lautlos wie möglich drückte sich Nelli am Wannenrand hoch. Kaum in der Senkrechten, wurde ihr schwindlig.
„Nelli?“
Verdammt!
„Bist du endlich wach?“
Sie fegte die Badetücher vom Hocker und ergriff das geduckte Möbelstück an der Sitzfläche. Sah aus wie ein alter Melkschemel. Als Ganzes zu sperrig. Sie zerrte an den Hockerbeinen, an den Querstreben.
„Nelli? Ich komm jetzt rein.“
Kurzentschlossen packte sie den Schemel an zwei Beinen und schmetterte ihn gegen die Wand. Zeitgleich mit dem Krachen und Spreißeln des Hartholzes wurde die Tür aufgerissen.
Wie erwartet hatte Andi seinen Revolver nicht dabei, denn er vermutete sie halb bewusstlos, wehrlos.
Womit er es aber zu tun bekam, war eine nasse Furie, die mit Keulen in den Händen aus der Wanne stieg und auf ihn zustürmte. Eines der Hockerbeine war glatt aus der Sitzfläche und den Querverstrebungen gebrochen, aus dem anderen spießten Holzspreißel wie Dornen, und mit dem ging sie auf ihn los.
Instinktiv duckte sich Andi unter ihr weg, strauchelte, stürzte der Wanne entgegen und tauchte mit beiden Armen hinein.
Nelli fing sich und verpasste ihm mit dem Stuhlbein einen Schlag auf den Hinterkopf. Er grunzte, aber sackte nicht etwa zusammen, sondern bäumte sich auf.
Sie begriff, dass sie keine Keule hatte, sondern ein Stöckchen. Mit voller Wucht schleuderte sie ihm das Stuhlbein entgegen, traf ihn an der Schulter und verschaffte sich dadurch ein paar Sekunden Vorsprung, die sie nutzte, um aus dem Badeverschlag zu rennen, die Tür zuzuknallen und – siehe da, er hatte den Riegel repariert – zu verschließen.
Lang würde ihn das nicht aufhalten. Sie musste den Revolver finden!
„Für eine Selbstmörderin kämpfst du ganz schön um dein bisschen Leben“, rief Andi hinter der Tür. Seine Stimme klang nicht, als fühle er sich in der Defensive.
„Du hast keine Chance, Nelli.“
Sie begann zu zittern, versuchte es zu unterdrücken. Was ließ sich hier als Waffe verwenden? Quatsch, sie musste hier raus!
„Ich hab alle deine Sachen versteckt und weggeschlossen. Willst du nackt und barfuß durchs Hochgebirge, Nelli? Wir haben auch im Sommer nachts eine Eiseskälte da draußen. Du wirst in einer Stunden erfroren sein. Glaub mir, ich kenn mich aus. Ich hab die Berge studiert.“
„Was willst du von mir?“
„Mach den Riegel auf, dann sag ich’s dir.“
„Nein, sag’s mir durch die Tür.“
Er lachte gekünstelt.
„Nelli, Nelli, ich hätte die Tür längst auftreten können, so wie du vorhin. Ich will aber, dass du deinen guten Willen beweist.“
„Ich hab nichts gestohlen, wirklich nicht.“
„Warum wolltest du dich dann durchs Fenster davonmachen?“
„Aus Angst. Du hattest mich eingesperrt.“
„Hatte ich nicht.“
„Hattest du doch!“
Sie zitterte jetzt so unkontrolliert, dass sie schreien musste, um überhaupt etwas hervorzubringen. Noch immer war sie nass, ihre Haare tropften, und ihr Rücken verkrampfte sich.
„Du bist am Ende, Nelli, du brauchst dringend was Warmes zum Anziehen. Mach schon auf.“
„Warum ... hattest du mich ... eingesperrt?“
„Wenn Du den Riegel aufmachst, wirst du sehen, dass die Tür nicht angelehnt bleibt, sondern von selbst aufgeht. Du wolltest doch nicht bei offener Tür baden, oder? Hätte ich dich einsperren wollen, dann hätte ich einen Mehlsack davorgestellt.“
Mehlsack, Mehlsack, ließ sich damit was anfangen?
Der Muskelkrampf begann weh zu tun und ihre Denkfähigkeit lahm zu legen. Abhauen oder angreifen? Abhauen hieße, dass alles umsonst gewesen wäre, was sie bisher durchgemacht hatte.
„Aaaaha!“, hörte sie Andi ausrufen. „Versuchst du gerade, das mit mir zu machen? Ganz schön schwer, die Säcke, oder? Schätze, du kannst sie nicht mal bis zur Tür zerren, geschweige denn tragen.“
„Muss ich auch nicht“, flüsterte sie, öffnete die Verschnürung des vordersten Mehlsackes und griff hinein. Zurück an der Tür, zog sie den
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