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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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rutschte so weit in ihre Richtung, dass sie mit dem Mund beinahe sein Ohr berühren konnte.
    „Ich hab meine Tochter im Stich gelassen. Sie war zwölf Jahre alt, als ich losgeradelt bin, und ich hab mich weder verabschiedet noch es ihr je erklärt. Wollte tausendmal anrufen, aber ich konnte nicht. Ich hab dann alles aufgeschrieben, hab kleine Reiseerlebnisse mit eingeflochten, die ich ihr gerne erzählt hätte, und es wurde mehr und mehr und mehr...“
    Im Leuchtkreis der schwachen alten Scheinwerfer sah Nelli Felsbrocken, Schneefelder und eine Art Geröllweg, der sich in weiten Windungen in die Höhe zog.
    Andi nickte, aber antwortete nicht.
    „Verstehst du jetzt, warum sie das Tagebuch bekommen muss?“
    „Du willst dich rechtfertigen.“
    „Nein. Vielleicht auch, ja. Aber sie soll vor allem verstehen...“
    „Was gibt es da zu verstehen? Du willst bloß nicht mit schlechtem Gewissen sterben.“
    „Spiel du dich nicht als Moralapostel auf! Du weißt gar nichts.“
    „Dann erklär’s mir. Warum hast du sie im Stich gelassen?“
    „Hab ich dir doch schon erzählt.“
    „Nein, hast du nicht. Komm, wie haben noch ein bisschen Zeit, ich will die Geschichte hören.“
    „Ich dachte, ich hätte nur noch ein paar Monate zu leben.“
    „Na und?“
    Sie presste die Augen fest zu, um die Tränen zurückzuhalten.
    „Mein Mann war kurz zuvor gestorben, auch an Krebs.“
    „Na und?“
    „Er hat über drei Jahre dagegen gekämpft, immer wieder Operationen, Chemotherapie, immer wieder Hoffnung. Monika und ich haben zugeschaut, wie er sich verändert hat von einem... ach...“
    Die Tränen rannen ihr die Backen hinunter. Der Reflex, sie abzuwischen, die zusammengebundenen Hände, die es verhinderten - alles staute sich und blockierte ihre Kehle.
    „Erzähl weiter.“
    „Es war zwei Wochen nach seiner Beerdigung, da bekam ich Schmerzen und habe eine Untersuchung machen lassen. Ich wollte nicht, dass Monika, kaum hatte sie den Vater unter unbeschreiblichen Qualen krepieren sehen, das gleiche mit der Mutter durchmachen musste.“
    „Nein“, sagte Andi abgehackt. Es klang meckernd – wie „Na-a-a-ein.“
    „Na-a-a-ein“, sagte er noch einmal und schüttelte den Kopf. „Du hattest nur Schiss. Du selbst wolltest das nicht durchmachen, stimmt’s? Du bist vor der Krankheit davongelaufen, daher kommt dein schlechtes Gewissen.“
    „Also wirst du ihr das verdammte Buch nun schicken?“
    Andi drehte den Kopf leicht in ihre Richtung und schielte sie an.
    „Wie hast du es überhaupt geschafft, deine Flucht zu planen, ohne dass sie was gemerkt hat?“
    „Ich hab gar nichts geplant. Nach der Diagnose bin ich nach Hause gefahren, bin in der Garage im Auto sitzen geblieben und hab geheult. Ich dachte daran, mich mit Auspuffgasen zu vergiften. Dann hab ich das Fahrrad gesehen, das alte Rad von meinem Mann, das da noch stand. Es war Anfang Juni, die Sonne schien zum Garagenfenster herein. Ich hab meine Handtasche auf den Gepäckträger geklemmt, das Fahrrad am Lenker gepackt und mich so draufgesetzt, wie ich war.“
    „Wieso, wie denn?“
    Nelli musste unter Tränen lächeln.
    „Ach, ich hatte Stöckelschuhe, Strumpfhose und ein Kleid an, und es war ja ein Herrenfahrrad. Ich selbst hatte keines und war als Kind zuletzt gefahren.“
    „Und so bist du zu deiner Weltreise aufgebrochen, als elegante Dame mit Handtäschchen auf dem Gepäckträger und sonst nichts? Das ist doch nicht dein Ernst!“
    „Ja, mit Lippenstift und Nagellack als Ausrüstung. Ich hatte so einen Bewegungsdrang. Die Garage hab ich offen gelassen, bin schwankend und torkelnd losgefahren, wollte einfach ein paar Runden um den Block drehen und den Kopf frei bekommen. Es war vormittags, Monika war in der Schule. Ich hatte auf dem Weg von der Klinik nach Hause Mittagessen eingekauft, zwei Tiefkühlpizzas, die jetzt im Plastikbeutel auf dem Beifahrersitz auftauten.“
    „Und dann?“
    Nelli räusperte sich. Nicht mehr lange, und sie würde auch nicht mehr flüstern können. Ihre Finger und Zehen waren längst steif und wurden jetzt gefühllos. Aber das Reden tat ihr gut. Sie hätte das längst tun sollen, mit wem auch immer. Vielleicht wäre sie dann vor Jahren schon umgekehrt, und alles wäre noch zu retten gewesen.
    „Ich bin durch unser Villengebiet und dann durch die Stadt gefahren. Die Leute haben vielleicht geguckt, weil mein Rock durch die Querstange so hochgeschoben wurde und dazu die Pumps...“
    Andi lächelte. Sie suchte in seiner Miene nach

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