In eisigen Kerkern (German Edition)
umzukehren und zu verkünden: He, stellt euch vor, jetzt hab ich auch Krebs.“
„Sondern?“
„Ich hatte einfach keine Lust umzukehren.“
„Aber du musst doch irgendwann mal eine Entscheidung getroffen haben für die Weltreise und gegen deine Tochter. Du musst doch irgendwann die Tour geplant und dich ausgerüstet haben.“
„Nein, zumindest nicht in den ersten Wochen, nicht mal in den ersten Monaten. Das ging von Tag zu Tag. Ich hatte ja meine Kreditkarte dabei, und das Konto war üppig, mein Mann hatte eine ziemlich erfolgreiche Firma.“
„Du bist nicht noch mal umgekehrt, hast alles geregelt, deinen Haushalt aufgelöst...“
„Nein. Es ist ja so, dass Monika bestens versorgt ist. Das halbe Erbe wurde direkt auf sie überschrieben, dazu das Geschäft. Und Stefanie kümmert sich wirklich rührend um sie, glaub ich.“
„Glaubst du also“, sagte Andi spöttisch. „Und wenn die kleine Monika fragt: Ist meine Mami weg gegangen, weil sie mich nicht mehr lieb hat? – dann antwortet Tante Stefanie seit sieben Jahren unverdrossen: Doch, deine Mami hat dich sehr lieb, sie kommt bestimmt bald wieder. Kann sich nur noch um Jahre handeln, gell Nelli.“
Er kicherte glucksend.
„Arschloch!“
Andi schaute sie schelmisch von der Seite an.
„Der Stachel sitzt ziemlich tief, scheint mir.“
„Einer wie du hat bestimmt nicht das Recht, mich zu verurteilen. Wie viele Leute hast du ausgeraubt und umgebracht?“
„Wirst du gleich selber sehen, Nelli. Aber mit verurteilen hat das nichts zu tun. Ich recherchiere.“
„Ich hab dir ehrlich geantwortet. Erfüllst du jetzt dein Versprechen?“
„Ich hab dir keines gegeben.“
„Dann gib es mir jetzt!“
Andi wiegte den Kopf.
„Ich soll ihr also das Tagebuch schicken?“
„Ja. Gib mir dein Wort drauf.“
„Damit sie versteht, warum du sie im Stich gelassen hast, und dir verzeiht?“
„Sie soll einfach nur die Möglichkeit haben, es zu lesen. Wie sie dann reagiert... – ich weiß es nicht.“
„Also eines versteh ich dabei nicht, Nelli: Wenn es dir so wichtig ist, dass deine Tochter dein Tagebuch liest, warum hast du es ihr dann nicht längst geschickt?“
„Ich wollte es ihr eigentlich persönlich übergeben oder am besten ihr in einem Gespräch alles erklären. Aber das geht ja nun nicht mehr.“
Andi Gesicht erstrahlte. Im Gegenlicht des Schimmerns der weißen Wand vor ihnen sah Nelli die Fältchen um die Augen so deutlich wie aufgemalt.
„Das wollte ich hören, Nelli. Der Moment der Übergabe wäre Abschluss und Höhepunkt der Reise gewesen, stimmt’s, und zugleich der Moment der Entscheidung. Wie hätte sie wohl reagiert?“
„Keine Ahnung.“
Andi nickte aufmunternd.
„Wir werden sehen.“
Es klang, als sei eine Entscheidung gefallen und als sei diese Entscheidung höchst positiv. Nelli schöpfte wieder Hoffnung.
„Heißt das, du lässt mich gehen?“
Er neigte bedauernd den Kopf, und sein Lächeln erlosch. Er wirkte enttäuscht über ihre Frage.
„Nein, das natürlich nicht.“
„Aber du schickst es ihr oder lässt mich einen Brief schreiben?“
Andis Lächeln kehrte zurück.
„Viel besser, Nelli, sehr viel besser!“
Abrupt drehte er sich zur Fahrertür, zog den Riegel und stieß sie auf.
„He!“
Nelli versuchte, den Kopf aus dem Rückfensterchen zu ziehen, aber blieb mit dem Kinn hängen.
„Was soll denn das heißen?“, rief sie ihm hinterher, aber er war schon aus ihrem Blickfeld verschwunden. Nelli gelang es, den Kopf aus dem Fenster zu ziehen.
„Andi!“
Es klickte metallisch, quietschte, und die Klappe neben ihr ging auf. Andis Kopf erschien. Nelli geriet aus dem Gleichgewicht und fiel ihm entgegen. Er fing sie mit einer schnellen Bewegung auf und zog sie von der Ladefläche.
„Andi, was... hast du vor?“
Wie eine Puppe stellte er sie vor sich auf, schaute sie an, strahlte immer noch.
„Kannst du dir das denn nicht denken, Nelli? Hast du nicht die gleiche Vision?“
„Nein, zum Teufel!“
Er schlug mit der linken Hand die Fahrertür zu, zerrte Nelli einen halben Meter nach links, lehnte sie an ans Führerhaus und bekam damit die Hände frei für eine große Geste.
„Der Moment des Verzeihens“, fabulierte er mit ausgebreiteten Armen, machte eine kreisende Bewegung mit den Händen und räusperte sich. Er brummte wie ein Opernsänger vor dem großen Auftritt, versuchte seiner Stimme einen tiefen, gewichtigen Klang zu geben.
„Mutter und Tochter, im Tod wieder vereint“, sang
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