In eisigen Kerkern (German Edition)
flüsterte.
„Nicht weinen, arme Nelli. Ich werde dein Töchterchen für dich herholen. Euer Diorama wird die Vollendung meines Projektes.“
Kapitel 3: Menschen, arrangiert wie Schaufensterpuppen
Die Nacht war schneidend kalt.
Nellis Sweatshirt war hochgerutscht bis zu den Rippen, und auf den nackten Rücken legte sich feuchte Eisluft. Kaum aus dem Haus, musste sie das erste Mal niesen.
„Schnauze“, sagte Andi nur, und es klang nicht mehr wie ein an sie gerichteter Befehl, sondern wie ein Selbstgespräch, projiziert auf einen Gegenstand. Sie war zum lebendzukonservierenden Objekt in Andis Horrorwelt geworden.
Ihr Fahrrad stand noch da, wo sie es an die Mauer gelehnt hatte. Ihr Fahrrad, ihre Leiche, ihr Tagebuch.
So war das nicht richtig: ihr Fahrrad dort, während sie woandershin geschleppt wurde, auf die Garage zu. Andi begann zu schnaufen, und er hinkte mit jedem Schritt ein bisschen mehr.
In Nellis Zielvorstellung, auf die sie in den letzten sieben Jahren zugeradelt war, lag ihr Fahrrad bei ihrem Tod neben ihr. Musste es auch, denn alles sollte richtig zugeordnet, mit ihrem Namen im Ausweis in Zusammenhang gebracht, als tragischer Todesfall nach Hause gemeldet und per Schiff oder Flugzeug komplett überstellt werden. Sterbliche Überreste samt Nachlass. Vor allem aber der Nachlass.
Sie hatte eine Passage in ihrem Tagebuch auf der letzten Seite, einen Satz nur, geschrieben in fetten Großbuchstaben, abgefasst auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch, unterschrieben mit Datum und Ort, ihr letzter Wille: „Falls es nicht möglich ist, meine sterblichen Überreste und meinen Besitz in meine Heimatstadt zu überführen, dann senden Sie bitte nur dieses Tagebuch an meine Tochter Monika Prenz.“
Zweimal während der sieben Jahre hatte sie die Adresse darunter ausbessern müssen, weil die Schwester ihres verstorbenen Mannes, Monikas Tante Stefanie, umgezogen war. Stefanie hatte Monika noch am Tag von Nellis Verschwinden bei sich aufgenommen und bald darauf das Sorgerecht beantragt.
Unter ihren letzten Willen, im untersten rechten Eck der versteiften letzten Seite des Tagebuchs, hatte Nelli fünf Zwanzig-Dollar-Scheine, zweimal gefaltet und in dünnes Plastik gewickelt, fest eingeklebt. Sie ging davon aus, dass, wer auch immer ihre Leiche fand, ihren letzten Willen respektiert und vielleicht nicht mal das Geld für die Unkosten angenommen hätte. Jeder normale Mensch hätte das getan. Dass allerdings ihre letzte Station das Haus eines Wahnsinnigen sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
„Ich muss dir was sagen, Andi“, krächzte Nelli in ihrer hängenden Haltung.
„Schnauze!“
„Es ist aber wichtig.“
„Jetzt nicht!“
„Ich will nicht betteln, nur...“
Sie nieste zweimal heftig, setzte mit belegter Stimme neu an, nieste ein drittes Mal.
„Ist ja widerlich“, murmelte Andi vor sich hin.
Er hatte die Garage erreicht, sperrte die Tür auf und stieg über den Absatz hinein.
„Andi!“
Ihre Stimme hallte hier drin, und sie verstummte irritiert. Es ging vorbei am Motorrad. Nelli dachte an die beiden diskutierenden Jungs, die jetzt in ihren warmen Betten lagen und fest schliefen, in Sicherheit und Geborgenheit. Auch sie selbst sollte eigentlich unten im Tal in ihrem Zelt inmitten der Blumenwiese neben erkaltenden Lagerfeuerresten im Schlafsack stecken und bald von den ersten Strahlen der Morgensonne wach gekitzelt werden.
Beim Gedanken an den Sonnenaufgang zog sich alles in ihr zusammen. Tränen wollten hervorschießen. Sie presste die Augen fest zu und schluckte den anschwellenden Schmerz im Hals hinunter.
Andi ging um einen Mauervorsprung herum nach links. Hinter einer raumteilenden Wand stand ein uralter Kleinlaster mit bauchiger Schnauze, offener Ladefläche und Geländereifen. Die Kühlerhaube war von einem Schneepflug verdeckt.
Stöhnend bückte sich Andi nach vorn und stellte Nelli auf die Füße. Er hielt sie mit der linken Hand an einer Fesselschlinge fest, während er mit der rechten ihr Gepäck ablegte.
„Andi, hör mir bitte mal kurz zu, ich muss...“
Mit einem Ruck drehte er Nelli mit dem Gesicht zur Ladefläche, ging leicht in die Knie, packte sie um die Hüften, stemmte sie hoch und drückte sie gegen die Seitenverkleidung. Nelli keuchte, als ihr Oberkörper nach vorn über die Seitenklappe kippte.
Sie schlug mit der Stirn auf die Ladefläche, spürte einen heftigen Ruck an den Beinen, es polterte, und schon war sie auf den Laster verladen. Die
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