In eisigen Kerkern (German Edition)
er.
„Was!?“, schrie Nelli. In ihrem Schock brachte sie erstmals wieder einen Ton hervor, krächzend und abgehackt, aber laut vernehmbar.
„Das wird großartig, nein: göttlich!“
„Andi, bitte nicht!“
„Oh doch. Du wirst dann zwar längst dahingeschieden sein, aber das ist gut, das erspart uns lästige Emotionen. Ich kann alles dem Anlass angemessen arrangieren. Nicht mehr Reiseszenerie mit Zelt, wie geplant, sondern Heimkehr und Übergabe des Tagebuchs.“
Andi wischte ihr mit dem Daumen eine Träne ab und flüsterte.
„Nicht weinen, arme Nelli. Ich werde dein Töchterchen für dich her holen. Euer Diorama wird die Vollendung meines Projekts.“
Es war nach zwei Tagen gewesen, dass Nelli eine Art Entscheidung getroffen hatte, auch wenn sie das später, gerade vor sich selbst, immer leugnen sollte.
Sie war noch nicht sehr weit von Hof entfernt, obwohl sie viele Kilometer zurückgelegt hatte, denn sie war im Zickzack geradelt: erst immer weiter südlich, von der Förmitztalsperre aus über den Waldstein zum Weißenstädter See, von da aus scharf westlich nach Gefrees und wieder südlich zur Ruine der Marienkapelle Bad Berneck. Obwohl sie evangelisch war und nie Zugang gefunden hatte zu religiösen Orten, erhoffte sie sich davon einen Impuls. Sie verweilte zwei Stunden lang und lauschte in sich hinein, aber der Fingerzeig blieb aus. Sie wurde einfach nur leer dabei und müde.
Wie im Gebet, aber ohne gefaltete Hände hatte sich mitten in der Ruine auf einen flachen Stein gekniet. Ihr beigefarbenes Kleid hatte vorne am Rock zwei dunkelgraue Flecken davongetragen, die gemischte Gefühle in ihr weckten: Teils war es ihr noch peinlich, verschmutzt und mit strähnigen Haaren unterwegs zu sein, teils war es ihr schon egal.
Trotzdem drehte sie an der Kapelle erst mal wieder um, radelte nach Norden zurück Richtung Hof, änderte zwischen Münchberg und Gefrees abermals die Richtung und fuhr westlich über Stammbach nach Neuenmarkt-Wirsberg, wo sie in einer kleinen Pension zum Übernachten einkehrte.
Es ekelte sie am nächsten Tag, über ihren frisch geduschten Körper das mehrfach durchgeschwitzte Kleid mit den Flecken zu streifen. Nie war sie der Rückkehr so nah gewesen wie in diesem Moment. Sie dachte sich: Jetzt reicht es, ich hatte meinen großen Ausbruch. Mein Kopf ist frei geworden, ich füge mich in das Unvermeidliche und stehe das zusammen mit dem Kind durch. Aber so angezogen kann ich nicht zu Hause ankommen. Besser also, ich fahre erst mal weiter nach Bayreuth, kaufe mir frische Sachen, verschrotte das Fahrrad und steige in einen Zug.
Und dann stand sie, nachdem sie das Fahrrad durch die Bayreuther Fußgängerzone geschoben, angekettet und sich ihre Handtasche umgehängt hatte, in einem Kaufhaus an der Rolltreppe und las: 1. Stock Damenoberbekleidung, 2. Stock Freizeit, Sport, Camping.
Sie fuhr in den ersten Stock, ging ohne nachzudenken zum nächsten Rolltreppenabschnitt und fuhr in den zweiten Stock. Atmungsaktive Sportkleidung, bequeme und unverwüstliche Trekkingschuhe, Kochgeschirr, Zelt und Schlafsack – mit einer solchen Ausrüstung musste das Radeln erst richtig Spaß machen!
Sie verließ das Kaufhaus zweckmäßig eingekleidet und mit ein paar Satteltaschen vollgepackt mit Kleidung zum Wechseln, Zelt und Schlafsack in der einen Hand – und einer Plastiktüte mit ihrem Kleid, ihren Stöckelschuhen, der Handtasche und ihrer verschwitzten Unterwäsche in der anderen Hand.
Den Plastikbeutel hängte sie, nachdem sie die neuen Sachen angebracht und verstaut hatte, nach kurzem Zögern an den Lenker. Für den Abfallkorb an der Laterne war ihr Designerkleid auch in verschmutztem Zustand zu schade.
Sie entsorgte es samt dem übrigen Plastiktüteninhalt zwei Stunden später in einem Altkleidercontainer an einem Supermarkt am Stadtrand, wo sie sich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln eindeckte. Ihr neues Zelt schlug sie, unterwegs in Richtung Fränkische Schweiz, bei Sonnenuntergang auf einer Waldlichtung zwischen zwei Dörfern auf.
Wie befreiend es war, sich keine Übernachtungsmöglichkeit suchen zu müssen!
An diesem Abend begann Nelli ihr Tagebuch. Auf die Rückseite eines Kartons aus einer der T-Shirt-Verpackungen formulierte sie eine Art Argumentationshilfe für sich selbst.
„Ich bin tot“, schrieb sie, „sehr bald schon, so oder so. Das Kind wird mich verlieren, das steht fest. Ich kann umkehren und es uns beiden sehr schwer machen, oder ich kann das, was unvermeidlich
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