In eisigen Kerkern (German Edition)
einem lüsternen Ausdruck beim Gedanken an den hochgerutschten Rock, aber derlei Assoziationen schienen im fern. Er grinste wie ein kleiner Junge und platzte heraus:
„Du konntest ja wahrscheinlich gar nicht richtig treten.“
Auch Nelli musste schmunzeln und wunderte sich über die Plauderstimmung, in die sie geraten waren. Die Delinquentin plauschte und schäkerte mit ihrem Scharfrichter auf dem Weg zum Richtblock und legte Geständnisse ab. Als wäre der selbsternannte Henker zugleich bester Freund und Beichtvater.
„Nein, aber das war mir egal. Ich wollte nicht umkehren und mich umziehen, weil dann diese besondere Stimmung weg gewesen und ich bestimmt nicht wieder losgefahren wäre.“
„Du bist dann so wie du warst aus der Stadt raus gefahren?“
„Erst mal auf dem Saaleradweg bis zum Untreusee, das ist ein Naherholungsgebiet im Süden von Hof. Aber da waren mir zu viele Leute, die mich kannten. Ein Wegweiser zeigte zur Förmitztalsperre, wo ich als Kind zuletzt gewesen war, und ich dachte: Die paar Kilometer schaff ich auch noch.“
„Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt – kennst du den Spruch?“
„Ja, genauso war’s bei mir. Von der Förmitztalsperre aus sah ich den Waldstein, auf einmal wollte ich da auch noch hin, rauf auf den Gipfel, zur Burgruine, zur Bärenfalle, vielleicht zur Saale-Quelle. Und so weiter und so weiter. Irgendwann klingelte das Handy in meiner Tasche.“
Der Laster schaukelte durch ein Schlagloch, und Nelli bekam mit Wucht die Fensterkante gegen die Kehle. Sie würgte und hustete.
„Tut mir leid“, sagte Andi, und es klang aufrichtig schuldbewusst und bedauernd.
„Schon gut.“
Das Sprechen kitzelte sie im Hals, sie musste husten.
„Wir sind gleich da, Nelli.“
„Tust du mir jetzt den Gefallen? Schickst du meiner Tochter das Tagebuch?“
„Hm“, machte er. Es klang nicht zustimmend, sondern abwägend. Angesichts der fast freundschaftlichen Stimmung, die durchs Fragen und Erzählen zwischen ihnen aufgekommen war, hatte Nelli damit nicht gerechnet. Sie sah den Laster auf ein Hindernis zusteuern, eine riesige weiße Wand. Andi drehte bei, stoppte und zog die Handbremse. Er griff zum Zündschlüssel, verharrte einige Sekunden, stellte dann den Motor aus.
Die plötzliche Stille war befremdlich.
„Hm“, machte er wieder, schaute stur geradeaus und bewegte sich nicht. Eine Woge von Eisluft ging von dieser weißen Wand aus und drückte an Nellis Finger und ihren nackten Rücken.
Andi schaute auf seine Armbanduhr.
„Kurz vor vier. Etwas Zeit haben wir noch.“
„Wofür?“
Nelli war weit jenseits einer Verfassung, in der man sich Zeit für etwas nehmen konnte. Die Kälte sog ihr die letzte Energie aus dem Leib, den letzten Lebenswillen. Sie war so müde. Erste Krämpfe, verursacht durch die Fesseln, rasten mit nie geahnten Schmerzen durch ihren Körper. Sie hatte das Gefühl, keine Sekunde länger in dieser Haltung auf der eiskalten Ladefläche knien zu können. Aber wenn sie sich jetzt ergab, war alles umsonst gewesen.
Andi schwieg vor sich hin.
„Was ist denn?“, fragte sie flüsternd. Es klang panisch, und sie erschrak darüber, wie laut sich das Flüstern ohne das Motorengeräusch plötzlich anhörte.
„Ich hab eine neue Vision, etwas unglaublich... Großartiges.“
Er starrte geradeaus auf die weiße Wand und hatte die Augen weit aufgerissen. Jetzt dreht er ganz durch, dachte Nelli.
„Andi, ich halte diese Stellung und die Kälte nicht mehr lang aus. Bitte versprich mir...“
„Nein, warte, Nelli, ich muss noch mehr wissen. Du hast es bald geschafft, das verspreche ich dir. Das Schlimmste liegt schon hinter dir.“
Er drehte sich halb nach rechts und schaute ihr aus den Augenwinkeln ins Gesicht. Seine Hände hielten das Lenkrad umkrallt.
„Was willst du denn noch wissen, Andi?“, flüsterte sie und hatte tatsächlich das Gefühl, das Schlimmste liege hinter ihr. Die Krämpfe nahmen zu, aber die anderen Schmerzen ließen nach. Sie wurde so müde, so müde. Und alles wurde so egal.
„Schnell noch eine reine Neugier-Frage: Wie ging es weiter? Dein Handy hat geklingelt, und dann?“
„Es war Stefanie, die Schwester meines verstorbenen Mannes. Weil ich Monika nicht von der Schule abgeholt hatte, war sie zu ihr gelaufen. Ich sagte, es sei alles bestens, ich sei nur aufgehalten worden und käme so schnell wie möglich vorbei.“
„Aber du bist weiter gefahren.“
„Ja. Aber nicht, weil ich dachte, das sei besser als
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