In eisigen Kerkern (German Edition)
schrie auf.
Andi zerrte sie unbeeindruckt weiter.
„Streck dich, dann kann ich dich tragen“, stieß er hervor.
Nelli konzentrierte alle Kraft darauf, sich noch fester zusammenzurollen und die Schmerzen zu ignorieren. Sie sah den Lastwagen kleiner werden und spürte, wie die Kälte zunahm.
Als die kleine Anhöhe überwunden war, der Lastwagen aus ihrem Blickfeld verschwunden, hatte sie das Gefühl, in einem Kälteloch zu versinken. Sie lag nicht mehr auf Geröll, sondern auf blankem Eis.
„Wir sind hier nahe... der Nährzone“, keuchte Andi, „wo der Gletscher niemals schmilzt.“
Auf dem Eis tat er sich leichter, ihren zusammengekrümmten Körper vorwärts zu zerren.
„Hierher verirrt sich kein Tourist. Nur vor den Glaziologen hab ich Angst. Die treiben sich nun auch hier oben herum seit der rapiden Gletscherschmelze. Deshalb ist der Eingang sehr gut versteckt.“
Die blaugraue Morgendämmerung über Nelli verschwand, und blau leuchtendes Eis umgab sie.
„Was du jetzt gleich siehst, gehört unter den sieben Weltwundern auf einen der ersten Plätze.“
Er keuchte kaum noch. Sein verschnürtes Opfer zog sich hier so leicht wie ein leerer Schlitten.
„Eines Tages, vielleicht schon, wenn ich mit dir und deiner Monika fertig bin, geh ich damit an die Öffentlichkeit, posthum, natürlich, und dann werden wir drei und alle anderen hier drin mit einem Schlag weltberühmt. Für alle Zeiten.“
Er zog sie auf eine Spalte zu. Für einige Meter folgte ein enger Eiskanal. Andi musste sich bücken, und es ging nur noch zentimeterweise vorwärts.
„Den Spalt hier kann ich in vier Metern Tiefe mit einem tonnenschweren Eisblock unzugänglich machen. Das ist das Tor in meine Zauberwelt.“
Ruck für Ruck zerrte er sie durch die Engstelle. Dahinter weitete sich der Kanal, und es wurde ein Gang daraus. Andi ließ sie los, streckte sich und stöhnte. Er räusperte sich.
„Was du jetzt siehst, Nelli, ist dem Eis abgetrotzt, und zwar in jahrelanger nächtlicher Kleinarbeit mit Pickel, Motorsäge und Presslufthammer.“
Er packte sie wieder am Seil und zog. Mühelos glitt sie dahin.
„Leider ist es jetzt zu spät für eine Besichtigung, und dich erst deine Eindrücke beschreiben zu lassen, fällt sowieso aus. Ich könnte ja deine Tochter diesen letzten Eintrag in dein Tagebuch machen lassen, was meinst du? Das hätte doch eine gewisse Ironie.“
In Nellis Sichtkreis tauchten bogenförmige Einschnitte im Eistunnel auf, einer links, dann versetzt einer rechts, wieder links. Dahinter Gegenstände oder Gestalten? Bunt jedenfalls, leuchtende Farbtupfer im bläulich dunklen Eis. Und ein Mann – stand da nicht ein Mann und starrte sie an?
Nelli sah sich der Erlösung näher kommen. Die Kälte zog ihr die Augen zu. So müde. Hab’s geschafft. Bin bald hinüber. Tut mir so leid, Monika, bin sooooo...
Es knallte an ihrer Wange, knallte noch mal.
„He!“
Andis Gesicht direkt vor ihr.
„Nicht jetzt schon sterben, hörst du!“
Seine Stimme klang panisch.
„Du musst dich erst strecken, verflucht noch mal!“
Er nahm ihr die Fesseln ab. Nelli spürte nichts, aber sah durch halb geöffnete Augen, dass sie auf eine Styroporunterlage geschoben wurde. Andi kniete sich vor sie hin, umarmte ihren kältesteifen Körper und spendete ihr seine eigene Wärme.
Sie spürte den Stein in ihrer Faust wieder Gestalt annehmen. Faust und Stein, zu einem Ding zusammengefroren, lösten sich dank Andis Wärme zu zwei getrennten Werkzeugen.
„Komm schon, sonst hol ich mir auch noch den Tod.“
Nelli spürte ihn an sich herum reiben und massieren. Er griff nach ihren Hände, wollte die zusammengeballten Fäuste lösen, gab es auf, blies statt dessen seinen warmen Atem auf ihre eisigen Finger.
„So geht das nicht, Nelli, du musst auch mit helfen. Beweg dich, und wenn es nur ein bisschen ist!“
Sie spürte, wie er anfing zu zittern. Er drehte sie auf die andere Seite, legte sich auf sie und versuchte so viel wie möglich von ihrem Körper mit seinem Körper zu bedecken.
Sie sah sein Gesicht aus nächster Nähe über sich. So ruckartig wie möglich hob sie ihren Kopf und rammte ihre Stirn gegen sein Nasenbein.
„Auaaaa!“, heulte Andi auf, hob den Kopf und forschte ebenso erstaunt wie misstrauisch nach Absicht in ihrem Blick.
Nelli nutzte die winzige Chance seiner Verwirrung, setzte nach, diesmal mit mehr Wucht, und traf ihn an der selben Stelle noch einmal. Diesmal knirschte es, und ein Blutstrom schoss aus seinen
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