In eisigen Kerkern (German Edition)
ist, die Trennung eben, auch jetzt schon und zwar mit Würde eintreten lassen. Die ersten Tage der Trauerarbeit liegen schon hinter uns. Aber das wichtigste Argument ist: Wenn ich umkehre, betrifft es das Kind, was mit mir passiert. Wenn ich nicht umkehre, bleibt das Kind davon unbetroffen.“
Diese Zeilen hatte sie im flackernden Schein ihres ersten selbst entzündeten Lagerfeuers mit dem Werbekugelschreiber aus dem Kaufhaus gekritzelt, versehen mit Datum über und Unterschrift unter dem Text. Zwei Tage später klebte sie den beschriebenen Pappkarton auf den inneren Einband eines 1.000 Seiten dicken Notizbuches, das sie in einem Schreibwarengeschäft erstanden hatte. Es war nicht nur der Beginn ihrer Tagebuchaufzeichnungen, es war für Nelli immer auch eine Art Einsatzbefehl gewesen: Aufgebrochen zu einem Dasein der Entbehrungen mit dem Tod als Ziel, die Entscheidung getroffen zum Wohle des Kindes.
Von wegen!
Nelli krümmte sich zusammen und starrte auf das Tagebuch. Andi hatte ihre Satteltaschen, aus denen ein Eck des Einbandes herausragte, neben ihrem Kopf abgestellt und lud gerade das Fahrrad ab.
„Was flüsterst du da dauernd?“, fragte er, und seine Stimme klang genervt.
Er kniete sich neben Nellis Kopf und hielt sein Ohr an ihren Mund. Nelli wiederholte gebetsmühlenartig, verzweifelt und im Geiste schon fern dieser Welt:
„Estutmirsoleidverzeihmir, estutmirsoleidverzeihmir, estutmirsoleidverzeihmir, estutmirsoleidverzeihmir...“
Andi stöhnte angewidert.
„Ist ja erbärmlich. Ich bin richtig froh, dass du nicht laut sprechen kannst.“
Er stand auf, klemmte die Satteltaschen unter den Gepäckträger und entfernte damit das Tagebuch aus Nellis Blickfeld. Er nahm das Fahrrad vom Ständer und schob es in Richtung der weißen, im Mondlicht glänzenden Wand, deren Kälteabstrahlung Nelli mehr und mehr erstarren ließ. Der von Steinbrocken übersäte Fels unter ihrem Körper tat sein übriges. Sie sah Andi, ihr Fahrrad mit der rechten am Lenker schiebend, nach kurzer Wegstrecke hinter einer Anhöhe verschwinden.
„Ich darf das nicht zulassen.“
Sie hörte ihr eigenes Flüstern wie die Stimme einer Fremden und versuchte sich zu bewegen, fest verschnürt und kältesteif wie sie war. Es tat nicht mal mehr weh. Die Erkenntnis, einer Ohnmacht mit Todesschlaf nahe zu sein, alarmierte sie, aber der Alarm brachte nur eine kleine, instinktive Reaktion zustande: Nelli krümmte sich, so gut es in ihren Fesseln ging, noch weiter in Igelhaltung zusammen, um ihre Körperoberfläche zu verkleinern.
Ihre linke, die unverletzte Hand, ragte mit der Fläche nach außen im Nierenbereich aus dem verschnürten Paket, in das Andi sie verwandelt hatte. Die Finger waren frei.
Nelli tastete mit lahmen Bewegungen über den steinigen Untergrund, packte den größten Stein, der erreichbar war, umkrallte ihn mit der Faust und drehte die Hand mit den Fingern zum Rücken hin.
Sie versuchte, sich noch fester zusammenrollen. Ihre Oberschenkel berührten jetzt fast ihre Brust, und wenn es ihr gelang, den Rücken noch etwas zu krümmen, kam sie vielleicht mit der Stirn in die Nähe der Knie.
Es knirschte. Schritte kamen heran.
Andi trug jetzt eine Art Kampfanzug, einen dunklen Overall mit schwarzen Stiefeln. Unter den Sohlen blitzte es, wenn er die Füße hob. Seine wulstigen Haare quollen unter einer Mütze mit Ohrenklappen hervor. Vor dem Hintergrund der Eisfläche erschien er ihr wie ein Schattenriss, aber es war hell genug, dass sie auch seine Vorderseite erkennen konnte, die schrägen Reißverschlüsse auf dem Overall und sein Gesicht, das sich jetzt ärgerlich verzog.
„Was soll denn das, dich so zusammenzukrümmen, Nelli“, rief er schon von weitem. „Streck dich mal wieder, los!“
Er versetzte ihr einen Tritt mit der Stiefelspitze gegen die Schulter. Es waren Spikes, was da unter seinen Sohlen so metallisch geglitzert hatte.
„Jetzt hör mal zu, du kannst deine Lage durchaus noch verschlimmern, wenn du mich ärgerst. Und an dir liegt es auch, ob ich deiner Tochter sehr weh tue oder es ganz kurz für sie mache. Also?“
„Ich kann doch nicht“, quetschte Nelli zwischen ihren aufeinander schlagenden Zähnen hervor.
„Was?“
„Kann... mich nicht... mehr bewegen.“
„Scheiße! Glaub bloß nicht, dass dir das hilft. Im Gegenteil.“
Er packte die zusammengerollte Nelli an einer Fesselschlinge und zerrte sie in Richtung der Eiswand. Ihre gequetschte Hand scheuerte über das Geröll, und Nelli
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