In eisigen Kerkern (German Edition)
Nasenlöchern. Er ließ sich von ihr herunter zur Seite fallen und fasste sich mit beiden Händen ins Gesicht.
Wie in Zeitlupe stemmte sich Nelli auf alle Viere, um ihm nachzusetzen. Er war von der Styropor-Unterlage gerollt, lag auf dem blanken Eis und wälzte sich vor Schmerzen. Ein anderer wunder Punkt lag frei. Nelli schlug ihm die Faust mit dem Stein in den Unterleib, nicht sehr hart, aber schmerzhaft genug, dass er die Hände vom Gesicht nahm.
Sofort rammte sie ihm den Stein gegen sein Nasenbein. Das Knirschen des bereits gebrochenen Knochens ging ihr durch und durch, aber sie zwang sich zu einem weiteren Schlag, noch ehe Andi die Hände wieder hochreißen konnte. Er heulte auf, krümmte sich in Embryohaltung auf die Seite und besudelte das Eis mit seinem Blut.
Nelli kroch zu ihrem Fahrrad und benutzte es, um sich selbst auf die Beine zu helfen. Darauf gestützt, verschnaufte sie, wollte es wenden und verschwinden. Da sah sie, dass ihre Satteltaschen fehlten und damit auch das Tagebuch.
Sie entdeckte ihre Sachen auf der anderen Seite der Eiskammer – hinter Andi. Noch immer lag er zusammengekrümmt da und sudelte Blut, heulte und knurrte, war ganz mit sich und seinen Schmerzen beschäftigt.
Das Kämpfen und Kriechen, das Aufstehen und Fahrradwenden hatte Nellis Kreislauf wieder in Gang gebracht. Ihre Denkfähigkeit funktionierte, aber die unterkühlten Körperteile fingen an zu stechen und zu jucken. Ihr war klar, dass ihre noch immer ungeschützten Füße auf dem Eis bald abgestorben sein würden. So konnte sie nicht fliehen. Sie brauchte Schuhe. Andi hatte welche.
Sie hob den Stein und ging auf ihn los.
Er sah den Angriff kommen und rappelte sich hoch. Noch ehe Nelli ausholen und zielen konnte, machte er einen Satz von ihr weg nach hinten und verbarrikadierte mit seinem Körper ihre Satteltaschen. Das war schlecht, aber gut war: Er hatte Angst vor ihr!
Sie setzte ihm nach und machte ein angedeutete Wurfbewegung mit dem Stein. Er nahm instinktiv die Hände vom Gesicht, um sie ihr abwehrend entgegenzustrecken. Nelli sah an der Nasenwurzel ein blutendes Loch und darunter einen gekrümmten Klumpen. Er stützte sich auf dem Eis ab, sprang auf, wich nach hinten zurück, griff sich ihr Tagebuch, zerrte es aus der Tasche und rannte damit aus dem Diorama. Ehe Nelli reagieren konnte, war er nach rechts im Gang verschwunden.
Nelli steckte den Kopf aus dem Diorama. Der Gang war so hoch wie Andis Größe plus ein paar Zentimeter, so dass sie problemlos stehen konnte, und zwei Armlängen breit. Ein Tunnel aus blankem Eis. Rechts wurde Andis Fluchtweg von einer Blutspur markiert, die nach zwei Metern hinter dem abknickenden Gang verschwand. Auch links ging es einige Meter weit geradeaus, bevor der Schacht abknickte. Auf Sichtweite gab es je eine Diorama-Einbuchtung links und rechts, ohne dass aus ihrem Blickwinkel zu erkennen gewesen wäre, was dort zur Schau gestellt wurde.
Nelli hatte keine Ahnung, in welcher Richtung der Ausgang lag, aber sie wusste, in Andis Richtung würde sie keinesfalls gehen, nicht solange Hoffnung auf einen anderen Fluchtweg bestand.
Also schob sie ihr Fahrrad nach links. Würde sie ihn bemerken, wenn er sich von hinten anschlich? Das Knirschen seiner Spikes war unüberhörbar gewesen, aber wenn er sie auszog und auf Socken kam?
Schuhe. Sie brauchte dringend welche. Das Fahrrad an ihren Bauch gelehnt, begann sie in ihren Satteltaschen zu wühlen.
Keine Schuhe. Aber sie konnte sich T-Shirts wie Lumpen um die Füße binden. Den Gedanken verfolgend, blickte sie immer wieder hektisch den Gang rauf und runter, sah eine Gestalt. Andi war das nicht, der war in die Gegenrichtung verschwunden. Alles, was nicht Andi war, konnte nur gut für sie sein.
Nelli nahm die Hände aus den Satteltaschen und packte den Lenker. Ihre rechte Hand war abgeschwollen und leidlich zu gebrauchen. Sie schob das Fahrrad langsam, Blick immer wieder nach hinten über die Schulter, auf die Gestalt im Diorama zu.
Was sie sah, waren Bergschuhe für ihre erfrorenen Füße. Was sie sah, war eine warme Daunenjacke für ihren schlotternden Körper. Was sie sah, war ein Eispickel als Waffe für die wohl unvermeidliche nächste Begegnung mit Andi.
Natürlich sah sie auch das leichenblasse Gesicht des Bergsteigers, seine verkrampft aufrechte, wie zurechtgebogene Haltung, in der er mühsam ausbalanciert auf den Eispickel gestützt neben seinem Rucksack stand und aus dem Diorama glotzte mit seinen
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