In eisigen Kerkern (German Edition)
Diorama hier am anderen Ende des Ganges, je nachdem, wie man es betrachtete, sie hatte es in ihrem Zustand des Erfrierens traumgleich wahrgenommen, die Gestalt dahinter hatte sie gesehen und doch nicht gesehen, als Andi sie hier abgelegt hatte.
Im diesem, wie es ihr schien, größten Diorama stand ein Straßenbauarbeiter in voller Montur samt knallorangefarbener Signalweste mit Helm auf dem Kopf vor einer Schubkarre mit Schaufeln und glotzte grimmig vor sich hin. Das mochte der Gesichtsausdruck gewesen sein, als er seinen späteren Mörder beim Stehlen des Presslufthammers erwischt hatte.
Sogar eine Art Bauzaun hatte Andi hier aufgestellt, eine Barrikade aus groben Brettern, und Eisenpfähle mit rot-weißem Absperrband. Die Haltung des zur Schau gestellten Toten und die aus dem Diorama ragende Absperrung kamen Nelli vor wie eine Torwächter-Szenerie:
Ihr, die Ihr Euch in dieses Eislabyrinth des Todes verirrt habt oder verschleppt wurdet, hütet Euch. Kehrt um, so lange Ihr könnt. Wenn Ihr es könnt.
Andi hatte vor dem Hereinkommen irgendwas gemacht, etwas gerollt oder geschoben, und dann war da plötzlich der Bauarbeiter gewesen.
Die Blutspur endete hier.
Das musste der Ausgang sein, aber er war verschlossen von massivem Eis.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Nelli zu sich selbst, schwang den Pickel des toten Bergsteigers und schlug zu. Das Eis war hart wie Stein, ein paar Splitter spritzten an der Einschlagstelle davon, aber zu sehen war gerade mal ein Kratzerchen.
„Hör auf damit!“
Ganz leise war das, aber deutlich zu verstehen.
„Andi?“
„Du kommst da nicht raus, du verbrauchst nur deine letzten Reserven.“
Durch das schimmernde Tor aus Eis sah sie seine Gestalt: die leicht gebückte Haltung, die Haarmatte und den roten, hakenartigen Fleck zwischen Augen und Mund.
„Das werden wir ja sehen“, gab sie so laut zurück wie sie konnte, hob den Pickel und schlug ein zweites Mal gegen die Barrikade aus Eis.
„Das ist eine Art Falltür, über einen Meter dick und gut und gern eine Tonne schwer. Ich hab hier draußen ein verstecktes Flaschenzugsystem. Von drinnen aus hast du keine Chance.“
Statt einer Antwort schlug Nelli ein drittes Mal gegen das Eis. Auf Höhe ihres Gesichtes war eine Kerbe deutlich erkennbar. Ein vierter Schlag, ein fünfter.
„Ich zähle jeden Hieb mit, Nelli, und jeder Hieb bringt große Extra-Schmerzen für deine Tochter.“
Mit weiteren Schlägen fand sie in eine Art Rhythmus. Schwung und Schlag, Schwung und Schlag.
„Ach, mach doch, was du willst“, hörte sie Andis Stimme wie durch Watte. Er stand einfach da, ein dünner, verzerrter Schemen jenseits des Eisblocks, und sah ihr zu.
Jetzt erst recht, Schwung und Schlag, Schwung und Schlag.
Die Arme wurden schwer. Die Schulter schmerzten. Die Luft ging ihr aus. Die Schläge wurden langsamer, kraftloser, seltener.
„Schon k.o.?“, fragte die gedämpfte Stimme.
Nelli betrachtete die Kerbe. Es war eine unbedeutende Schramme in diesem übermannshohen Panzerglas-Pflock, nicht mehr.
„Du könntest es längst hinter dir haben, Nelli. Erfrieren ist gar nicht so schlecht.“
Sie wollte den Pickel heben. Es ging nicht. Sie schnaufte, beugte sich nach vorn und stützte sich auf die Knie.
„Bist du schon am Ende?“
„Du bist ein verdammter Feigling, Andi.“
„Und du bist eine Lügnerin.“
Nelli horchte auf. Sie schaute, weiter auf die Knie gestützt, hoch zu dem schemenhaften Kopf mit Blutnase. Er schien auf eine Reaktion zu warten, und ihr Schweigen schien ihm Reaktion genug.
„Du warst gar nicht krank, stimmt’s?“
Nelli schnaufte und richtete sich langsam auf.
„Ich hab ein paar sehr aufschlussreiche Passagen gefunden, warte mal, ich zitiere: Eine solche Diagnose würde ich nicht verkraftet haben. Das war zwei Wochen nach deinem Aufbruch angesichts erster massiver Zweifel. Ist jetzt die Zeit, mich der Wahrheit zu stellen? Das war, als es auf den Winter zuging, kurz bevor es dir zu kalt wurde und du Deutschland in Richtung Süden verlassen hast. Und im Jahr drauf schließlich, geschrieben in Gibraltar: Lebe ich jetzt schon zwei Monate länger als Nick nach seiner Diagnose, und wenn ich es wirklich hätte, müsste ich jetzt zumindest eine Abnahme der Leistungsfähigkeit feststellen. Auch da wolltest du umkehren, aber statt dessen bist du nach Afrika übergesetzt. Würde, hätte, müsste. Du hast dich untersuchen lassen, aber die endgültige Diagnose nicht abgewartet, stimmt’s? Es war alles
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