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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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ungläubig-schreckensstarren, gefrorenen Augen. So schockierend das war – wenn sie selbst nicht ebenso enden wollte, brauchte sie kein Mitleid für das namenlose Opfer, sondern dessen Sachen.
    Sie schaute über die Schulter zurück. Ein Risiko, ein gewaltiges. Vom Diorama aus konnte sie den Gang mit der Blutspur nicht sehen. Es musste verdammt schnell gehen, und das würde es auch.
    „Tut mir leid, Kumpel“, flüsterte sie, lehnte ihr Fahrrad in Fluchtrichtung an die dem Diorama gegenüberliegende Wand des Eisganges, stakste auf ihren gefühllosen Füßen zu der Leiche, wand ihr den Eispickel aus der Hand, was leichter ging als erwartet, und wollte sie umkippen, was auf Anhieb misslang und auch bei einem zweiten Versuch.
    Kein Wunder, die Beine waren fixiert worden. Andi hatte, von vorne unsichtbar, eiserne Stangen ins Eis getrieben und die Beine daran mit dünnem Draht befestigt. Keine Chance, ihm die Schuhe auszuziehen.
    Aber da war ja immer noch der Rucksack.
    Nelli zerrte ihn aus dem Diorama in den Gang, stellte ihn auf den Kopf, Blick in Richtung Andis Fluchtweg, und brachte hilfreiche Dinge zum Vorschein, allen voran mehrere Paare Socken. Sie hockte sich hin und zog die dicksten Wollstrümpfe an, die sie finden konnte und gleich noch ein Paar darüber. Keine Schuhe, aber Sandaletten, merkwürdige Ausrüstung in einem Bergsteigerrucksack, aber sei’s drum, besser als nichts.
    Sie fand mehrere Pullover, und das war verdammt viel besser als die sperrige Jacke des Toten. Nelli zog zwei Strickpullover übereinander und eine Mütze auf den Kopf. Handschuhe und Ohrenschützer hätten ihr gut getan, aber sie musste hören und sich wehren können, also ließ sie beides liegen. Energieriegel, die hatte sie nötig. Sie riss einen auf, biss hinein und steckte ihn zusammen mit einem zweiten in die hintere Jeanstasche.
    Sie kaute und überlegte. Von welcher Seite aus hatte Andi sie hier herein gezerrt? Sie konnte es nicht sagen. In beiden Richtungen knickte der Gang nach wenigen Metern ab. Wohin sie auch ging, es konnte in die Falle und in den Tod sein. Ihr blieb doch nur der Kampf, oder? Nun war sie so weit gegangen und hatte überlebt, sie konnte nicht ohne ihren wertvollsten Besitz fliehen – nur durch das Tagebuch war sie doch in diese Lage geraten.
    Sie ließ das Fahrrad zunächst stehen und ging den Gang in Gegenrichtung von Andis Blutspur. Links und rechts Dioramen, versetzt gegeneinander, Gestalten darin.
    Zwei, drei.
    Der Gang verlief in flachem Bogen und öffnete den Blick auf weitere Hohlräume, Nischen, Kammern – keines der Dioramen war gleich.
    Vier, fünf.
    Sechs, sieben, acht.
    Männer und Frauen. Gelegentlich auch Tiere. Hunde, Katzen, eine Taube. Manchmal zwei Gestalten in einer Eisgruft. Szenen aus dem Leben.
    Neun, zehn, elf.
    Jeder dieser Menschen hatte ein Leben gehabt, ein Haus oder eine Wohnung, Dutzende und Aberdutzende Bekannte, Freunde, Verwandte, von denen er vermisst wurde, die heute noch hofften, suchten, bangten.
    Zwölf, dreizehn.
    Und der Gang zog sich weiter und weiter.
    14, 15, 16.
    17, 18, 19.
    Nummer 20 war eine leere, halb aus dem Gletscher gehauene Einbuchtung. Pickel verschiedener Größe steckten in einem fahrbaren Gestell. Eine Kettensäge lag am Boden und daneben ein grobes, dreckiges Ding, das nur ein Presslufthammer sein konnte. Eine Schubkarre voll Eisbrocken. Ende.
    Nelli erinnerte sich an den Lageplan. So wie der im Entstehen begriffene Hohlraum angeordnet war, sollte das ihrer werden. Ihr Diorama war noch gar nicht fertig. Wenn hier aber das Ende des Ganges war, dann konnte der Zugang nur in Gegenrichtung liegen.
    Also rückwärts das Ganze.
    19, 18, 17.
    Mit erzwungen tiefen Atemzügen versuchte Nelli Energie zu schöpfen. Die wenige Kraft, die sie noch hatte, im Verlauf des Erstarrens wie in einer Batterie geladen, wich nun rasch aus ihrem Körper. Sie schleppte sich nach vorn, den in sanftem Zickzack gewundenen Gang entlang. Dorthin zurück, wo Andi sie hatte präparieren wollen.
    Ihr Fahrrad stand da noch unverändert. Daneben lag der von ihr ausgeleerte Rucksack. Zwei Meter weiter begann Andis rote Spur. Aus den warmen Blutstropfen waren rote Tupfer und Schlieren im Eis geworden, einer farbigen Glasur ähnlich.
    Den Gang im Bogen herum, verlor die Spur an Deutlichkeit, nur alle paar Meter mal ein Tröpfchen oder Spritzerchen deutete darauf hin, dass er hier entlang gekommen war.
    Und Nelli war es auch, sie erinnerte sich an diese Umgebung: Das letzte oder erste

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