In eisigen Kerkern (German Edition)
und keinesfalls bereit, sich auf irgendwelche Vorwürfe einzulassen. Aber nach Vorwürfen stand Nelli auch gar nicht der Sinn. Sie wollte nur Klarheit.
„Dann...“
Nun musste sie sich bemühen, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie räusperte sich abermals und fragte so emotionslos wie möglich: „Dann lebt er womöglich noch?“
Die Antwort kam augenblicklich, kam hart, klar und völlig überzeugt:
„Nein, natürlich nicht. Das auf keinen Fall. Sie haben doch, glaube ich, seine Leiche sogar berührt?“
Nelli schüttelte sich bei dem Gedanken daran, wie sie den Finger an Andis harte, kalte Wange gedrückt hatte. Gott sei Dank, hatte sie damals gedacht, Gott sei Dank, der steht nie mehr auf.
„Sollte ich deshalb bei Ihnen anrufen? Weil Sie denken, ich wüsste, was passiert ist?“
„Sie sollten mich anrufen, um uns Ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Auch wenn die Leiche nicht verschwunden wäre, müssten wir wissen...“
„Wie kann denn eine Leiche überhaupt verschwinden?“, fiel ihm Nelli ins Wort.
„...müssten wir wissen, wie wir Sie erreichen können, wenn noch Fragen auftreten“, redete er gegen ihre Frage an, ohne die Stimme zu heben. „Immerhin handelt es sich um einen der ungewöhnlichsten Serienmordfälle der Polizeigeschichte. Die Ermittlungen werden sich noch Monate hinziehen, und Sie sind das einzig überlebende... Ich meine, Sie sind unsere einzige lebende Zeugin.“
„Ich habe nach wie vor keinen festen Aufenthaltsort“, sagte Nelli leise und ahnte, dass sie bei der Polizei ohnehin längst als Herumtreiberin eingestuft worden war.
„Und wo sind Sie zur Zeit?“
„In Oberfranken, ein paar Kilometer südlich von meiner Heimatstadt Hof. Der Ort heißt Oberkotzau. Aber hier bleibe ich nicht...“
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Ich weiß es nicht, wirklich, keine Ahnung. Würden Sie mir jetzt bitte erklären...“
„Ich weiß es auch nicht. Wir haben ihn nach der Bergung im Gletscher bei den anderen Toten abgelegt, und am nächsten Tag...“
„Warum das denn?“, fragte Nelli entsetzt dazwischen. Sie hatten ihn abgelegt, ihn unbeobachtet liegen und einfach so entkommen lassen!
„Beruhigen Sie sich. Es war, wie Sie wissen, ein Samstagabend, als die Bergwacht ihn aus der Gletscherspalte zog. Wir hatten weder einen Kranken- noch einen Leichenwagen vor Ort.“
„Warum eigentlich nicht?“
„Weil am Montag darauf ohnehin die Bergung der Opfer begonnen hätte, ob wir ihn bis dahin gefunden gehabt hätten oder nicht. Die Ermittlungen am Tatort waren beendet, es hätte sich alles schön in einem Abwasch erledigen lassen.“
„In einem Abwasch, ja? Und Sie haben ihn und die anderen bis dahin unbewacht im Gletscher zurückgelassen?“
„Das Gelände war hinreichend abgesperrt. Und Tote muss man in der Regel nicht bewachen, Nelli.“
„Offensichtlich doch!“
„Ein Zwischenfall wie dieser...“
„Zwischenfall?!“
„Es ist nun mal passiert.“
„Und wie soll das jetzt weitergehen?“
„Wir ermitteln natürlich in alle Richtungen, aber...“
„In alle Richtungen, na toll! Tun Sie das sonst etwa nicht?“
„Hören Sie, Nelli!“
„Und mir gefällt auch nicht, dass Sie mich dauernd Nelli nennen. Das ist seine Art zu sprechen.“
„Was? Wessen Art?“
Die direkte Anrede mit ihrem Vornamen hatte eine Welle von Ekel in Nelli ausgelöst. Andis Stimme war wieder in ihren Ohren, seine an ihr festgemachten Selbstgespräche, seine Art, mit ihr umzugehen wie mit etwas, das ihm gehörte und womit er machen konnte, was er wollte.
„Ahnst du schon, worauf es hinausläuft, Nelli? Was soll denn das, dich so zusammenzukrümmen, Nelli? Genauso hat er mit mir geredet, als ich da lag und ihm ausgeliefert war.“
Der Polizist schnaufte hörbar, und seine Stimme klang deutlich weniger plump vertraulich, als er weiter sprach.
„Es tut mir leid, Frau Prenz, das konnte ich nicht wissen.“
„Das konnten Sie nicht wissen, aber... – Hallo, sind Sie noch da?“
„Was ist?“
„Mein Geld ist gleich durch.“
„Wie kann ich Sie erreichen?“
„Gar nicht. Ich rufe Sie wieder an.“
„Aber da wäre noch was ganz Wichtiges zu bespre...“
Klick.
„Verdammt!“
Das war ihr letztes Kleingeld gewesen. Und sie hatte auch sonst nicht mehr viel Geld. Nelli ließ den Hörer sinken, bis die Telefonschnur spannte, und stützte sich an den Apparat. Ihr Atem ging stoßweise. Da stand ihr Fahrrad, wie sie selbst an die Telefonstele gelehnt. Sie war frei und unbedroht, konnte
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