In eisigen Kerkern (German Edition)
tun und lassen, was immer, konnte aufsitzen und fahren, wohin immer sie wollte.
Aber Andi war verschwunden. Leiche oder lebendig, niemand wusste, wo das Scheusal steckte und was es mit seinem Verschwinden auf sich hatte. Egal, was, es betraf Nelli unmittelbar. Er konnte hier sein, nur eine Ecke weiter, sie aus einem Geschäft heraus durchs Schaufenster beobachten. Auf sie lauern.
Die Todesangst war mit voller Wucht wieder aufgeflammt.
Sie sehnte sich nach dem Gefühl der Leere zurück, das sie in den vergangenen Tagen und vor allem seit dem letzten Tag, dem Besuch bei ihrer Stieftochter Monika, gelähmt hatte. Leere, Perspektivlosigkeit, Verzweiflung – alles war besser als dieses Grauen.
Sie stand noch fünf, sechs, vielleicht auch zehn Minuten an der Hauptstraße von Hof in Richtung Schwarzenbach/Saale, starrte blicklos auf die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen und wusste einfach nicht, was sie machen sollte. Eigentlich wollte sie zur Förmitztalsperre und von da aus zum Waldstein, zum Weißenstädter See, über Gefrees nach Bad Berneck, wieder hoch Richtung Münchberg... – die Zickzack-Route ihres Aufbruches vor sieben Jahren.
Damals hatte sie gewusst, sie musste umkehren, denn daheim wartete das Kind, ihre Stieftochter Monika, und hatte keine Ahnung, wo Nelli war. Sie hatte das Umkehren an der Förmitztalsperre aufgeschoben, hatte es auf dem Waldstein aufgeschoben, in den Fichtelgebirgsorten Weißenstadt und Bad Berneck, war ziellos auf dem alten Herrenfahrrad ihres verstorbenen Mannes, mit Stöckelschuhen und im Sommerkleid, durchs hufeisenförmige Mittelgebirge geradelt, bis sie in Richtung Bayreuth ausgeschert war, sich dort in einem Kaufhaus in der Fußgängerzone eine Radlerausrüstung gekauft und damit allen Gedanken an Rückkehr eine mehr als nur vorläufige Absage erteilt hatte.
Wäre sie damals umgekehrt, gleich hier oder spätestens an der Förmitztalsperre...
Es ist nie zu spät! Nelli gab sich einen Ruck, wendete ihr Fahrrad, schob es vom Gehsteig, schwang sich auf den Sattel und nahm die Straße zurück Richtung Hof.
Sie mied den Radweg und folgte der Hauptstraße durch den Stadtteil Moschendorf über die Wunsiedler Straße Richtung Alsenberger Durchlass. War das wirklich der kürzeste Weg? Oder wäre es doch auf dem Radweg schneller gegangen? Oder gleich hier rechts über die Ascher Straße? Wozu überhaupt die Eile?
Nelli bremste so abrupt, dass es ihr fast die Räder wegzog. Da sie sich an der Kreuzung zur Mitte hin eingeordnet hatte, musste ein Sattelschlepper hinter ihr mit einem Schlenker ausweichen und drückte auf die Hupe, bis er an ihr vorbei war. Sie hörte es nur mit halbem Ohr. Denn ihr war eingefallen: Wenn Andi wirklich noch lebte, wenn er ihr auf den Fersen war – dann war sie vielleicht jetzt im Begriff, ihm zu zeigen, wo Monika wohnte.
Als ob er das nicht auch im Telefonbuch nachschlagen könnte! Vielleicht war er sogar schon dort oder auf dem direkten Weg zu ihr, und sie konnte das Schlimmste verhindern, wenn sie nicht zögerte.
Wie angeleimt stand Nelli mitten auf der Hauptverkehrsstraße, wurde vom Verkehr umtost und wusste nicht weiter.
Er war tot! Er war so zweifellos mausetot, dass es einfach lächerlich war, überhaupt umgekehrt und nach Hof zurück gefahren zu sein.
Aber wo war dann seine Leiche?
Es half nichts, sie musste Monika zumindest warnen. Und sie musste es persönlich tun, nicht telefonisch. Es führte kein Weg daran vorbei. Sie musste noch einmal bei ihrer Stieftochter vorfahren und klingeln, ihr unter die Augen treten. Davor hatte sie doch die eigentliche Angst: Nachdem sie es nach sieben Jahren Davonlaufen endlich hinter sich gebracht hatte, sich zu entschuldigen, nun innerhalb von zwei Tagen ein zweites Mal dort aufzutauchen, diesmal mit der Nachricht, dass womöglich Gefahr durch einen Serienmörder bestand.
Zögerlich, so langsam, dass sie beim Anfahren schwankte, setzte Nelli das Fahrrad wieder in Bewegung.
Auch das musste sie wohl noch hinter sich bringen. Es ließ sich nicht vermeiden.
Monika öffnete nicht.
Nelli klingelte noch einmal und auch noch ein drittes und viertes Mal. Sie hämmerte mit der Unterseite der Faust gegen die wuchtige, dunkel gebeizte Massivholztür. Womöglich war Andi schon...
Blödsinn!
Dennoch, sie konnte nicht einfach wieder davonfahren. Vielleicht sollte sie eine Nachricht in den Briefkasten stecken?
Nein, lieber warten. Es musste persönlich sein.
Nelli ließ sich mit dem Rücken zur Tür
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