In eisigen Kerkern (German Edition)
fuhr dann per Anhalter zurück ins Tal.
Die Touristen, die im Lauf des Tages in der Passhütte Station machen wollten, fuhren angesichts des verwaisten Parkplatzes und der verschlossenen Wirtsstubentür gleich weiter.
Erst am späten Nachmittag, die Sonne hatte sich bereits ins Tal zurückgezogen, wurde Nelli von einem der Straßenbauarbeiter gefunden, der eigentlich nach Andi hatte sehen wollen. Noch nie hatte der Passwirt, wie er von seinen Stammgästen genannt wurde, seinen Betrieb an einem Werktag geschlossen gehabt. Andis Zuverlässigkeit und seine Beliebtheit retteten Nelli das Leben.
Es dauerte mehrere Tage, bis Nelli vernehmungsfähig war und die Geschichte bekannt wurde.
Da die Zufahrt zu dem Abschnitt der Nährzone des Gletschers, in die Andi seinen Schreckenstunnel getrieben hatte, nur über sein Grundstück zugänglich war, schien dort tatsächlich außer ihm und Nelli noch nie ein Mensch gewesen zu sein.
Die Polizei barg die Leichen der Opfer und überstellte ihre Habseligkeiten an deren Familien. Die Identifizierung war kein Problem, da Andi, korrekt wie er gewesen war, in jedem der Dioramen Personalausweis oder Pass des jeweiligen Toten wie eine Art Authentizitätsbeweis hinterlegt hatte.
Andi selbst fanden sie nicht.
Erst als Nelli aus dem Krankenhaus entlassen wurde und die Polizei zu der Absturzstelle führte, konnten die Bergwachtkletterer sich die 80 Meter bis zum Grund der Spalte abseilen. Die Bergung dauerte einen ganzen Nachmittag.
Nelli atmete unwillkürlich schneller, als sie ihn wiedersah. In seiner kauernden Haltung, äußerlich unverletzt bis auf die blutverschmierte Nase, die Schlitzaugen halb geöffnet, sah er aus, als werde er gleich aufspringen und über sie herfallen.
Sie drückte ihm den Zeigefinger an die Wange um sich zu versichern, dass er durch und durch hart und kalt war. Das Tagebuch hielt er in seiner Froststarre so fest umklammert, dass zwei Polizisten nötig waren, es ihm zu entwinden. Nelli bekam es ausgehändigt, ohne dass jemand einen Blick hinein geworfen hatte.
Nelli tat es auch nicht. Sie glättete die ausgerissenen Seiten, legte sie dort ein, wo sie hingehörten, schob das Tagebuch in die Schutzhülle und steckte es in ihre Satteltasche. Während der restlichen Tage, die sie vom Pass aus nach Hause brauchte, schrieb sie nichts auf und las auch nichts nach.
Es war ein kühler, regnerischer Samstagmorgen, als Nelli an der Ruine der Marienkapelle Bad Berneck ihr Zelt zusammenpackte und zur letzten Etappe aufbrach. Ohne zu frühstücken setzte sie sich aufs Fahrrad und hielt erst in Hof wieder an.
Nelli steuerte die letzte ihr bekannte Adresse von Stefanie und Monika an. Es war ein weitläufiges Anwesen im Stadtteil Krötenbruck. Sie klingelte ohne Erfolg, versuchte es bei den Nachbarn und erfuhr, dass nur noch Stefanie hier wohnte. Monika war an ihrem 18. Geburtstag in ihr Vaterhaus am Theresienstein zurückgekehrt, das nie verkauft worden war. Nun würde Nelli also genau dort ankommen, wo sie sieben Jahre zuvor aufgebrochen war.
Von Krötenbruck zum Theresienstein brauchte sie eine halbe Stunde. Lange stand sie vor dem Gartentürchen des vertrauten Grundstückes, schaute den Plattenweg entlang zur Haustür, drehte endlich den Knauf, schob ihr Fahrrad durch den Garten, lehnte es ans Haus und stieg die zwei Treppchen hoch zur Tür. Der Klingelton war immer noch das gewohnte altmodische Schrillen.
Sie hörte Schritte, eine Frauenstimme rief: „Ich komme!“
In der linken Hand hielt Nelli in einem Stoffbeutel ihr Tagebuch bereit. Sie hatte es für den Fall hervor geholt, dass ihre Stieftochter nicht mit ihr sprechen wollte – oder dass sie selbst es nicht über sich brächte, ihr alles zu sagen, was zu sagen war.
Als Nelli zwei Stunden später zu ihrem Fahrrad zurück kam, steckte sie das Tagebuch samt Stoffbeutel in die Satteltasche. Es war nicht nötig gewesen, es hervorzuholen.
2. Buch
Kapitel 4: Ist der Massenmörder noch am Leben?
„Was, wie bitte? Seine Leiche ist nicht mehr da?“
Nelli räusperte sich und wechselte den Telefonhörer von der linken in die rechte Hand.
„Nicht mehr da?“, wiederholte sie. „Das heißt dann wohl, er wurde verbrannt statt beerdigt?“
„Nein, das heißt ganz offen gestanden, dass wir nicht wissen, was mit der Leiche passiert ist.“
Die Stimme des Polizisten klang schuldbewusst. Sie hörte auch heraus, dass er sich bemühte, die Stimme fest klingen zu lassen, beruhigend und überlegen
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