In eisigen Kerkern (German Edition)
herauf geschleppt: eine Schaufel, einen Spaten, ein zwei Meter langes Brett aus dem Bauzaun, das vom Feuer verschont geblieben war, und eine Leiter, ebenfalls aus dem Bauarbeiter-Diorama. Aus dem fünften Seilstück knotete sie sich einen Sitzgurt zurecht und schlang ihn sich um den Körper. Jedes der vier Seilstücke verknotete sie gesondert daran. Die vier anderen Enden zurrte sie mit Doppelknoten an die vier Querleger, die sie anschließend wie Brücken über die schmale Öffnung der Spalte legte.
Sie hatte es geschafft, dem toten Kletterer die Bergschuhe samt Steigeisen auszuziehen und ihre von Erfrierungen juckenden Füße in das steinharte Schuhwerk zu zwängen. In jeder Hand einen Eispickel, drehte sie sich nun mit dem Rücken zur Spalte, schlug die Pickel einen Meter vor der Kante ins Eis, prüfte den Halt und setzte dann den ersten Fuß in die Tiefe.
Der Tritt hielt. Sie riskierte es, fest an die Pickel geklammert, den anderen Fuß in die Spalte und etwas tiefer zu setzen, schließlich den linken Eispickel zu lösen, näher an der Kante einzuschlagen, ein weiteres Stück tiefer zu steigen und den anderen Pickel zu lösen.
Schritt für Schritt und Schlag für Schlag arbeitete sie sich an den leblosen Körper heran – bis einen Meter darüber das erste der vier Seile spannte.
„Verflucht!“
Sie sah nach oben. Inzwischen an den Schatten in der Spalte gewöhnt, blendete sie das gleißende Sonnenlicht über dem Gletscher. Aber sie wusste auch so, dass es die Schaufel war, die ihr am fernsten lag und damit bereits den Spielraum beschnitt. Sie beugte sich nach unten, ließ zaghaft den rechten Eispickel los, versicherte sich, dass er steckenblieb und griff so tief sie konnte. Es fehlte gut ein halber Meter zum Buch.
Eigentlich logisch: Die Seil-Teile, passend auf die richtige Länge geschnitten, waren durch die Knoten zu kurz geworden. Zumindest dieses eine Stück. Die anderen konnten gerade so hinkommen, sofern es ihr gelang, die Schaufel weiter auf sich zuziehen.
Das Tagebuch lag nicht sicher auf, es lehnt nur an Andis Kopf. Der hatte es losgelassen, wie sie jetzt sah. Seine Finger umschlossen den Einband nicht fest, sondern lagen nur locker darauf.
Sie griff nach dem rechten Eispickel und ließ dafür den linken los. Mit der linken Hand zerrte sie am Seil und versuchte, die Schaufel auf sich zu zu ziehen. Der Knoten saß nicht exakt in der Mitte. Das Stielende glitt über die Kante, die Schaufel rutschte in die Spalte, fiel die doppelte Seillänge durch und pendelte sich unter Nelli und Andi unterhalb der Engstelle aus.
Nellis Herz pochte hart, und die Handflächen schwammen im Schweiß. Sie spürte das Gewicht der schwankenden Schaufel an sich zerren.
Tief ein und aus atmend, prüfte sie die Festigkeit des rechten Standes, setzte den linken Fuß einen Schritt tiefer, folgte mit dem linken Eispickel, dann dem rechten Eispickel und dem rechten Fuß. Alle Seile spannten. Egal, jetzt würde es reichen.
Aber wohin mit dem Tagebuch? Sie brauchte beide Hände zum Hochklettern, und das Ding war schwer wie ein Ziegel.
Sie ließ den rechten Eispickel los und beugte sich nach unten. Ihre Fingerspitzen berührten den Bucheinband.
Sie lockerte den Griff der linken Hand um den Eispickel, beugte die Knie ein wenig mehr, ließ sich in die Seile hängen und hörte ein Kratzen über sich, als die Leiter ihrem Gewicht und dem Zug in ihre Richtung nachgab und verrutschte.
Aber sie hatte es! Mit drei Fingern hatte sie ein Bündel Seiten erwischt, leider nicht den Einband, aber der Griff hielt. Langsam, ganz langsam zog sie das Buch auf sich zu.
Es ging ein gutes Stück. Das Buch hing schon schräg vor Andis Kopf, als die Bewegung plötzlich stockte und das Seitenbündel zwischen ihren drei Fingern rutschte. Nelli erschrak, drückte fester zu, zog sachte, aber das Buch hing fest.
Es hing in Andis rechter Hand.
Sie zweifelte an ihrem Verstand. Waren seine Hände nicht locker am Einband gelegen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet, weil sie sicher war, der Griff eines Sterbenden löse sich von dem, was er festgehalten hatte?
Sie presste die Finger zusammen, zog und zerrte und hatte die Vision, das Buch löse sich gleichzeitig aus Andis toten und ihren eigenen verkrampften, schweißigen Fingern und stürze flatternd wie ein Vogel in die Tiefe. Jenseits der Engstelle sah sie keinen Boden. Es würde verschwinden, einfach so, und alles wäre umsonst gewesen.
Sie griff nach. Instinktiv geschah das, bewusst hätte
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