In eisigen Kerkern (German Edition)
sie es nicht gewagt. Loslassen für einen Sekundenbruchteil, die Hand schneller tiefer stoßen als das Buch fiel und nachfassen. Jetzt hatte sie es mit der ganzen Hand, mit allen fünf Fingern, und das Seitenbündel hatte etwa 20, 30 Blätter. Jetzt würde ihr Griff stärker sein als der des Toten. Nelli schnappte erleichtert nach Luft. Sie zog. Und spürte deutlich einen Gegenzug.
Andis Kopf hob sich, und zugleich fuhr seine linke Hand nach oben.
Sie sah es, zog fester, ihre gebeugten Beine begannen zu zittern. Ehe Nelli überhaupt begriffen hatte, dass er noch lebte, hatte er ihr Handgelenk fest gepackt und zerrte daran. Er begann sich in seiner eingeklemmten Position zu winden und versuchte dabei, sich an ihrem ausgestreckten Arm hoch zu ziehen.
„Das wird doch nichts“, keuchte Nelli. „So gehen wir nur... beide drauf.“
„Dann musst du... wenigstens nicht länger davonlaufen, Nelli. Ich weiß jetzt... was mit dir los ist.“
Er wandte und schlängelte sich in der Spalte und zwängte sich, an ihren Arm geklammert, ein Stück daraus hervor. Nelli hatte sich schon voll in die drei Seile gehängt, um ihr Buch zu erreichen. Jetzt hingen ihre eigenes und Andis Gewicht an den drei Querlegern. Sie konnte kaum glauben, dass ihre dilettantischen Knoten und die dünnen Schaufelstiele das mitmachten, aber lange würde es nicht gut gehen.
Während Andi sich, inzwischen aus eigener Kraft in die Spalte gestemmt und nicht mehr fest steckend, an Nellis linkem Arm klammernd Zentimeter um Zentimeter in die Höhe schob, zerrte er mit seiner rechten Hand am Tagebuch und versuchte es ihr zu entreißen.
„Gib schon her! Da stehen doch sowieso bloß Lügen drin. Sie ist nur deine Stieftochter, und du kannst sie nicht ausstehen.“
Nelli drehte ihr Handgelenk in seinem Griff und gewann ein paar Zentimeter im Kampf um ihr Buch. Sie begriff, dass auf ihren Beinen kein Gewicht lastete. Sie stützte sich mit gebeugten Knien, die Steigeisen fest in der Gletscherwand verhakt, lediglich von ihrer Seite der Wand ab, ansonsten waren ihre Beine frei. Sie selbst und Andi hingen an den Seilen und zum geringen Teil an dem Eispickel, an dem ihre linke Hand klammerte.
Obwohl sie nichts zu verlieren hatte und die Logik ihr sagte, dass sie nicht mal was riskierte damit, fiel es ihr unglaublich schwer, das rechte Bein aus dem Stand zu nehmen und sich damit auch bewusst voll den Seilen und ihrem einen Arm anzuvertrauen. Wie ein strampelndes Insekt zunächst, unkoordiniert, aber mit jedem Stoß gezielter, fing sie an, mit ihrem steigeisenbewehrten Fuß nach Andi zu treten.
„Hör auf mit dem Scheiß!“
Sie traf ihn am Rücken und an der Schulter. Dick angezogen wie er war, konnte sie nicht viel ausrichten, aber er spürte die Tritte und zeigte sich irritiert davon, versuchte, das Gesicht wegzudrehen und seine blutverkrustete Nasenruine in Sicherheit zu bringen. Ein Stoß, es musste nicht mal ein fester Tritt sein, ein Stoß mit dem Fuß dorthin würde reichen.
Von oben her kam sie nicht in Höhe seines Gesichtes, aber sie konnte versuchen, unter seinem Körper und seinem linken Arm vorbei nach oben zu treten. Andi streckte den Kopf, drehte ihn zur Seite möglichst weit weg von den Angriffen, zappelte und zerrte, und mit einem Ruck kam er aus seiner Korken-Position ganz frei und pendelte, an Nelli hängend, ein Stück nach links über dem Abgrund. Unwahrscheinlich, dass er hier steckenbleiben würde, wenn er noch mal fiele.
Sein Gesicht kam in Trittweite. Nelli überlegte nicht, sie trat zu. Die Steigeisen bohrten sich dahin, wo Andis Nase gewesen war. Er schrie auf, der Griff an ihrem Handgelenk löste sich, es machte kurz und trocken „Ratsch“, und mit Andis Schlitzaugenblick verschwand auch Nellis Tagebuch. Was blieb, waren ein paar zerknüllte, aus dem Einband gerissene Seiten in ihrer Faust.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ein dumpfes „Pflupp“ und eine Art Keuchen vom Boden der Spalte herauf drangen.
Nelli suchte instinktiv Tritt mit dem rechten Fuß, stopfte das zerknüllte Papier in ihre Hosentasche, zog sich mit der linken Hand aus den Seilen und streckte sich mit der rechten Hand nach dem zweiten Eispickel.
Nelli schob ihr Fahrrad über den steinigen Weg bergab. Ihre letzten Kräfte reichten bis an die Rückseite von Andis Haus. An der versperrten Hintertür brach sie zusammen.
Gerda fand das Haus verlassen vor. Da sie keinen Schlüssel für die Gaststube hatte, wartete sie eine Stunde lang an der Vordertür und
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