In eisigen Kerkern (German Edition)
Neuanfang gewesen. Genüsslich dachte Nelli an diesen Moment zurück, während sie Ruftöne zählte und nach dem zehnten auflegte. Monika war noch immer nicht zurück.
Egal. Das war Vergangenheit. Jetzt endgültig.
Das Einchecken.
Es hatte sie niemand, wie erwartet, schief angeschaut, die Nase gerümpft oder gar Bemerkungen gemacht. Das Empfehlungskärtchen des Verlages hatte Wunder gewirkt. Nelli war zurück in der Gesellschaft. Vielleicht war es das, was das Gefühl von Wohlbefinden ausgelöst hatte. Sie war in keinem Hotel mehr gewesen, seit... – während der sieben Jahre unterwegs jedenfalls nicht, und davor? Das musste gewesen sein, bevor ihr Mann krank geworden war, vor acht oder noch mehr Jahren.
Sie hatte es immer genossen, sich um nichts kümmern zu müssen und sich so richtig verwöhnen zu lassen, und sie hatte beschlossen, es auch jetzt uneingeschränkt zu genießen, das Wohnen ohne Nebenerscheinungen: kein Aufräumen, Putzen, Kochen, was sie in ihrer Zeit als reich-verheiratete Frau sowieso nie gemacht hatte. Im Vergleich zum Touren-Alltag kein Zeltauf- und Zeltabbau, kein Lagerfeuerschüren und Kochen, kein Töpfe im kalten Bach auswaschen und die Fettkrusten mit dem Fingernagel abkratzen, kein Frieren, kein Schwitzen, keine Mücken – dafür Wohlbefinden rundum.
Wie sie das genoss! Alles immer warm, Dusche und WC nebenan, weiches Bett, Fernseher. Wie im Rausch hatte sie am Abend davor herumgezappt und die Minibar geplündert. Erst beim Schlafengehen war ihr aufgefallen, dass sie es versäumt hatte, den Wellnessbereich auszuprobieren.
Heute würde sie das nachholen. Der Neuanfang musste nicht abgewartet werden, er war schon eingetreten. Müdigkeit und Leere waren verflogen. Bester Laune schlurfte Nelli ins Bad, packte Bademantel, Handtücher und Duschgel zusammen und machte sich auf zum Fahrstuhl und hinunter in die paradiesische Wellnessoase des Luxushotels. In der Hölle eingeschlafen, im Himmel erwacht. Andi ade. Es begann die Nach-Monika-, die Nach-Andi-Ära. Die Nach-Flucht-Ära. Es brach, hoffentlich, die Nelli-findet-Nelli-Ära an.
„Was zum Teufel haben Sie da an?“, fragte die Herolder und zerrte rabiat an Nellis Blusenärmel.
„Sie haben doch gesagt, ich soll mir neue Sachen besorgen.“
„Aber doch nicht für den Fototermin, Mensch! Haben Sie Ihr verknittertes altes Zeug wenigstens dabei? Da, in irgendeiner Ihrer Taschen?“
Sie fuchtelte mit ihrer qualmenden Zigarette am Hinterteil von Nellis Fahrrad herum.
„Ja, hab ich“, antwortete Nelli widerwillig, öffnete den Reißverschluss der linken Satteltasche und zog eines ihrer abgewetzten, durchgeschwitzten T-Shirts und eine Radlerhose hervor. Frisch geduscht und neu eingekleidet stieg ihr der strenge Geruch, der ihr noch vorgestern nicht an sich selbst aufgefallen war, so übel in die Nase, dass sie auf einmal das Gefühl hatte, ein solches Leben nie geführt zu haben. Ein Leben auf der Straße und im Unterholz – wie geträumt und längst vergessen kam ihr das vor. Nie wieder, hoffentlich.
„Na also, schon besser“, bestätigte die Herolder ihre Wahl. „Und jetzt gehen Sie schnell da rein, suchen Sie sich irgendeinen Nebenraum zum Umziehen, und dann los.“
Nelli zögerte, schaute vom Glaseingang des Verlagsgebäudes zum Fotografen, einem dürren, behaarten Lackel mit Taschen und Stativen, zur Herolder und wieder zum Eingang.
„Aber...“
„Huschhusch! Das ist nicht irgendein Knipser, sondern ein verdammt teurer Profifotograf, der nach Viertelstunden bezahlt wird, und zwar mit Sätzen, die andere in der Woche verdienen. Sagen Sie dem Pförtner, dass Sie kurz seinen Pausenraum brauchen.“
„Aber ich möchte nicht wie eine Pennerin in Ihrer Illustrierten abgebildet werden. Muss denn das sein?“
„Nelli! Nelli-Schätzchen, hören Sie zu...“
Die Herolder schmiss ihre halb gerauchte Zigarette ins Gebüsch, schluckte mit einer sichtlichen Kehlkopfbewegung ihre schlechte Laune hinunter, setzte ein Lächeln auf, legte ihre feuchte rechte Hand auf Nellis Schulter, was durch den dünnen Stoff sofort zu spüren war, und zupfte mit der linken Hand an Nellis Ärmel.
„Sie haben sich da ein tolles Kleid gekauft, sehr nett. Nicht mein Stil, aber Ihnen steht es doch ziemlich gut – wäre dies hier eine Kindstaufe oder ein Theaterbesuch.“
„Aber...“
„Wir machen hier eine Reportage“, fuhr die Herolder fort, ohne sich auf eine Unterbrechung einzulassen. „Reportage heißt, aus dem Leben gegriffen. Das
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