In eisigen Kerkern (German Edition)
wird keine Homestory, denn erstens sind Sie kein Promi, und zweitens haben Sie gar kein Home für diese Story. Wir treffen uns hier aus einem anderen Grund: Sie haben kein einziges Foto von unterwegs, das sehe ich doch richtig, weil Sie keine Kamera dabei hatten, und vom Inneren des Gletschers und allem, was dort passiert ist, haben Sie sowieso keines, was natürlich verständlich ist.“
Nelli schüttelte den Kopf.
„Was wir hier heute machen, ist, Fotos nachzustellen, mit denen die Reise dokumentiert wird. Und Sie sind ja wohl kaum im Kleid unterwegs gewesen.“
„Anfangs schon.“
„Meinetwegen, aber der Anfang ist mir scheißegal. Hier geht es um das Ende, das letzte große Abenteuer, um den Moment, in dem Sie dem Tod von der Schippe gesprungen sind. Alles klar? Also raus aus dem Edelzwirn und rein in die Schwitzklamotten.“
Der Fotograf war nicht nur ein Profi, er war der reinste Künstler. Nelli schaute sich die Digitalaufnahmen auf dem Display der Kamera an und hatte das Gefühl, unterwegs heimlich fotografiert worden zu sein: Nelli in voller Fahrt über einen holprigen Weg, Nelli beim Zeltaufbau, Nelli am Lagerfeuer – sie selbst stand ganz im Mittelpunkt, und aus dem deutschen Staatsforst, der sich unweit des Verlagsgebäudes zwischen Industriebauten und Autobahn flach und öde ausbreitete, hatte der Fotograf durch Kameraeinstellung, Blickwinkel und Fokussierung etwas gezaubert, das jede Wildnis der Erde hätte sein können.
Nelli wirkte so unabgelenkt und auf ihre Alltagsverrichtungen konzentriert, so zielgerichtet und zugleich losgelöst, überlegen und frei, so allwissend und ahnungslos, schwer tragend an Versäumnissen und Schuld und zugleich so unschuldig – sie wirkte so, wie ihr Selbstbild als Weltreisende immer ausgesehen hatte, ein Traumbild, das mit der Realität nie in Einklang zu bringen gewesen war, so sehr sie sich auch bemüht hatte. Hier aber war der Einklang plötzlich geschaffen, so leichthin und glaubhaft und doch so künstlich.
„Kann ich da eines haben als Erinnerung?“, fragte Nelli schüchtern.
„Klar, ich schicke Ihnen ein paar. Haben Sie ein Kärtchen mit Ihrer Mail-Adresse?“
Die Herolder wiederholte das Wort „Mail-Adresse“, prustete und patschte dem Fotografen auf die Schulter als hätte er einen Riesengag gemacht. Das ärgerte Nelli mehr als jede andere subtile Gemeinheit, die sie sich in letzter Zeit hatte gefallen lassen müssen. Sie wollte bestimmt nicht bewundert werden dafür wie sie lebte und für das, was sie durchgemacht hatte, aber warum nur fehlte es den Leuten so völlig an Respekt ihr gegenüber? Der Fotograf war wohl auch nur so nett, weil er nicht wusste, dass sie bis vor zwei Tagen pleite gewesen war und auf der Straße gelebt hatte.
„Ich dachte, dass Sie mir vielleicht einen Abzug machen und bei Frau Herolder hinterlegen könnten.“
„Kein Problem.“
„Haben Sie eigentlich schon ausgecheckt?“, mischte sich die Reporterin ein. Sie liefen über den Waldweg zurück Richtung Verlagsgebäude, Nelli ihr Fahrrad schiebend in der Mitte.
„Ausgecheckt? Nein, wieso?“
„Na, weil jetzt erst mal Pause ist. Haben Sie noch irgendwelche Sachen auf dem Zimmer dort?“
„Nein, nicht dass ich wüsste.“
„Dann brauchen Sie gar nicht mehr erst dorthin zurück. Ich regle das telefonisch, und Sie können wieder Ihrer Wege gehen. Der Verlag übernimmt Ihre Spesen hier bis einschließlich letzte Nacht.“
Nelli blieb abrupt stehen.
„Das kann doch noch nicht das ganze Interview für eine zehnteilige Artikelserie und ein Buch gewesen sein!“
„Für den Einstieg schon“, antwortete die Herolder gelassen zwischen zwei Zigarettenzügen und ging einfach weiter. Der Fotograf, beladen mit Stativ und Fototaschen, wusste nicht recht, was tun, und folgte seiner Auftraggeberin zögernd. Nelli setzte sich wieder in Bewegung.
„Der erste Teil wird natürlich nur ein Überblick über die Gesamtereignisse und soll neugierig machen“, redete die Herolder weiter in Gehrichtung. Nelli, die kaum was verstand, beeilte sich, zu ihr aufzuholen.
„Und die Details?“, fragte sie von hinten.
„Die besprechen wir vor jedem neuen Teil. Natürlich müssen wir uns nicht jede Woche treffen, es reicht so ein-, zweimal im Monat.“
„Aber wie soll ich wissen, wann ich das nächste Mal gebraucht werde?“
Die Herolder steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel, öffnete ihre Handtasche, zog ein Handy hervor und reichte es nach hinten zu Nelli.
„Ich
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