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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Person zu studieren. » Mir ist bereits aufgefallen, dass Ihr nur Gemüse zu essen scheint«, sagte er und griff nach seiner Serviette.
    Sie nickte. » Nährstoffe sind Heilmittel – so nennt mein Arzt das. Er sagt, ich litte unter den Anfängen eines Gehirnfiebers, das ich mir infolge der schlechten Luft in einer Art Klosterschule in Schottland zugezogen habe. Er ist der Fachmann, also wird er wohl recht haben – obwohl ich mich tatsächlich besser gefühlt und mehr Energie besessen habe, bevor ich seinen Diätanweisungen folgte.«
    Chandagnac hatte an seiner Serviette einen Faden gezogen und nahm die Arbeit an dem nächsten auf. » Ihr Arzt?«, fragte er beiläufig. Er wollte nichts sagen, was ihre muntere Stimmung stören und sie wieder in die unbeholfene, schweigsame Mitreisende verwandeln konnte, die sie während der vergangenen Monate gewesen war. » Ist er der … wohlbeleibte Bursche?«
    Sie lachte. » Der arme Leo. Nennt ihn ruhig rundlich, ach, nennt ihn fett. Das ist er. Dr. Leo Friend. Er ist gewöhnungsbedürftig, aber mein Vater schwört, es gebe keinen besseren Mediziner auf der Welt.«
    Chandagnac blickte von seiner Serviette auf. » Habt Ihr Eure … Medikamente … weggelassen? Ihr wirkt so fröhlich heute.« Ihre Serviette lag auf dem Tisch; er nahm sie ebenfalls und begann an ihr herumzuzupfen.
    » Nun, ja. Gestern Abend habe ich den ganzen Teller aus dem Fenster meiner Kabine gekippt. Ich hoffe, die arme Möwe hat nichts davon probiert – es ist ein ekliges Gemisch aus Kräutern und Samen, die Leo in einer Kiste in seiner Kabine züchtet. Dann habe ich mich in die Kombüse gestohlen und mir vom Koch etwas harten Käse, eingelegte Zwiebeln und Rum geben lassen.« Sie lächelte verlegen. » Ich musste einfach etwas haben, das nach irgendetwas schmeckte.«
    Chandagnac zuckte die Achseln. » Das klingt nicht übel.« Er hatte drei Schlingen aus jeder der Servietten gezogen, faltete die Servietten jetzt glockenförmig, steckte jeweils drei Finger einer Hand in die Schlingen und ließ die Servietten aufrecht stehen und wie lebende Figuren aufeinander zugehen. Eine von ihnen verbeugte sich, während die andere knickste, und dann begannen die beiden Stofffiguren – von denen er einer irgendwie ein weibliches Aussehen verliehen hatte – in komplizierten Drehungen, Schritten, Sprüngen und Pirouetten auf dem Tisch umeinander herumzutanzen.
    Die junge Frau klatschte begeistert in die Hände, und Chandagnac ließ die Figuren vor ihr einen Knicks und eine weit ausholende Verbeugung machen, bevor er die Finger aus den Schlingen zog und die Servietten fallen ließ.
    » Ich danke Euch, Miss Hurwood«, sagte er im Ton eines Zeremonienmeisters.
    » Ich danke Euch, Mr. Chandagnac«, sagte sie, » und Euren lebendigen Servietten ebenfalls. Aber seid nicht so förmlich – nennt mich Beth.«
    » Sehr gern«, erwiderte Chandagnac, » ich bin John.« Er bereute bereits den Impuls, der ihn dazu gebracht hatte, sie aus der Reserve zu locken – er hatte weder die Zeit noch wirklich den Wunsch, sich wieder auf eine Frau einzulassen. Früher hatte er auf den Straßen der Städte streunende Hunde zu sich gerufen, nur um zu sehen, ob sie mit dem Schwanz wedeln und kommen würden, und dann waren sie ihm nur allzu oft stundenlang gefolgt. Daran musste er nun denken.
    Höflich lächelnd erhob er sich. » Nun«, sagte er, » mache ich mich besser davon. Es gibt noch einiges, was ich jetzt mit Kapitän Chaworth besprechen muss.«
    Er hatte es kaum ausgesprochen, als ihm klar wurde, dass er sich tatsächlich auf die Suche nach dem Kapitän machen sollte. Die Carmichael lief im Augenblick glatt vor dem Wind und bedurfte wohl keiner größeren Aufmerksamkeit ihres Kapitäns, und er freute sich darauf, vor dem Ausschiffen noch einmal bei einem letzten Bier mit dem Kapitän zusammenzusitzen. Chandagnac wollte Chaworth zum offensichtlichen Erfolg von dessen Wagnis, sich die Versicherung zu ersparen, gratulieren – obwohl er das in sehr verschleierter Form würde tun müssen, wenn sie nicht ganz unter sich waren. Darüber hinaus wollte er den Mann streng ermahnen, niemals wieder eine solche Dummheit zu begehen. Chandagnac war immerhin ein erfolgreicher Geschäftsmann, war zumindest einer gewesen und kannte den Unterschied zwischen einem sorgfältig kalkulierten Risiko und einem Wagnis, bei dem man seine gesamte Berufslaufbahn und seinen Ruf vom Fall einer Münze abhängig machte. Natürlich würde Chandagnac darauf achten müssen,

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