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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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seine Mahnung in scherzhaftem Ton vorzutragen, um dem alten Mann keinen Grund zu geben, seine trunkene Vertraulichkeit zu bereuen.
    » Ach«, sagte Beth ganz offen enttäuscht, dass er nicht bleiben und ihre Unterhaltung fortsetzen konnte. » Nun, vielleicht werde ich mir meinen Stuhl an die Reling stellen und eine Weile die See betrachten.«
    » Wartet, ich bringe ihn Euch herüber.«
    Sie stand auf, und Chandagnac nahm ihren Stuhl und stellte ihn an die Steuerbordreling, ein paar Meter entfernt von einer der auf Pfosten montierten Miniaturkanonen, die von den Matrosen Drehbassen genannt wurden. » Hier seid Ihr nur für eine Weile im Schatten«, sagte er zweifelnd, » und voll im Wind. Seid Ihr sicher, dass Ihr unter Deck nicht besser aufgehoben wäret?«
    » Leo würde das auf jeden Fall so sehen«, sagte sie und nahm mit einem dankbaren Lächeln Platz, » aber ich würde meinen Versuch von gestern Abend gern fortsetzen und herausfinden, was für eine Art Krankheit das ist, die man sich von normalem Essen, Sonnenlicht und frischer Luft zuzieht. Außerdem ist mein Vater mit seinen Forschungen beschäftigt, und das endet gewöhnlich damit, dass der Boden der ganzen Kabine mit Papieren, Pendeln, Stimmgabeln und was weiß ich allem bedeckt ist. Sobald er erst einmal alles verteilt hat, kommt man weder in die Kabine hinein noch aus ihr heraus.«
    Gegen seinen Willen neugierig geworden, zögerte Chandagnac. » Forschungen? Was erforscht er denn?«
    » Nun, ich bin mir nicht sicher. Er war früher sehr mit Mathematik und Naturphilosophie beschäftigt, aber seit er vor sechs Jahren seinen Lehrstuhl in Oxford aufgegeben hat …«
    Chandagnac hatte ihren Vater während der einmonatigen Fahrt nur wenige Male gesehen – der würdevolle, einarmige alte Mann hatte nicht den Eindruck vermittelt, als ob ihm an Geselligkeit an Bord gelegen sei, und Chandagnac hatte ihm nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt allerdings schnippte er erregt mit den Fingern. » Oxford? Benjamin Hurwood?«
    » Richtig.«
    » Ihr Vater ist der …«
    » Ein Segel!«, erscholl ein Ruf aus der luftigen Höhe über dem komplizierten Spinnengewebe der Wanten des Hauptmastes. » Knapp an Backbord voraus!«
    Beth stand auf, und sie eilten beide quer übers Deck zur Backbordreling, lehnten sich weit hinaus und verrenkten sich die Hälse, um an den Wanten der drei Masten vorbeizuschauen. Das ist ja schlimmer, dachte Chandagnac, als im Marionettentheater während einer Szene mit vielen Puppen von oben auf die Bühne zu schauen. Doch dieser Gedanke erinnerte ihn zu deutlich an seinen Vater, sodass er ihn lieber unterdrückte und sich ganz auf die Suche nach dem Segel konzentrierte.
    Schließlich entdeckte er einen weißen Flecken am sich langsam auf und ab bewegenden Horizont, und er zeigte Beth Hurwood, in welche Richtung sie schauen musste. Sie beobachteten das Segel einige Minuten lang, aber es schien nicht näher zu kommen, und obwohl sie jetzt in der vollen Sonne standen, schien der Wind auf dieser Seite des Schiffes kühler zu sein, sodass sie schließlich zu Beth’ Stuhl an der Steuerbordreling zurückgingen.
    » Euer Vater ist der Autor von … dieser Zurückweisung von Hobbes.«
    » Die Verteidigung des freien Willens.« Sie lehnte sich an die Reling und wandte sich nach achtern, so dass die Brise ihr das lange dunkle Haar aus dem Gesicht wehte. » Das stimmt. Obwohl Hobbes und mein Vater Freunde waren, soweit ich weiß. Habt Ihr das Buch gelesen?«
    Ein weiteres Mal wünschte Chandagnac sich, er hätte den Mund nicht aufgemacht, denn das Buch von Hurwood war Teil des gewaltigen Lektüreprogramms gewesen, das er unter Anleitung seines Vaters absolviert hatte. Dichtung, Geschichte, Philosophie und Kunst! Aber irgendein ungeschlachter römischer Soldat hatte Archimedes mit dem Schwert durchbohrt, und ein Vogel hatte Aischylos zu Tode gebracht, indem er ihm eine Schildkröte auf das kahle Haupt hatte fallen lassen – der Vogel hatte den Glatzkopf für einen Stein gehalten, auf dem man Schildkröten aufbrechen konnte.
    » Ja. Ich hatte den Eindruck, dass er Hobbes’ Vorstellung von einer rein mechanischen Welt überzeugend zurückgewiesen hat.« Bevor sie dem zustimmen oder widersprechen konnte, fuhr er fort: » Aber was haben Pendel und Stimmgabeln damit zu tun?«
    Beth runzelte die Stirn. » Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht einmal, auf welchem … Gebiet … er zur Zeit arbeitet. Er hat sich in den Jahren seit dem Tod meiner Mutter sehr

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