In fremderen Gezeiten
Reling und wartete einen Augenblick, bis die Dünung das gewaltige, ächzende Heck des Schiffes mit dem Poopdeck, auf dem er stand, hochgehoben hatte. Dann warf er den Zwieback so weit er konnte. Zuerst sah es nach einem recht ordentlichen Wurf aus, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich, während der Zwieback in immer steilerer Kurve fiel und fiel und immer noch nicht ins Wasser platschte; indes hatte die Möwe ihn erspäht, kam dicht über dem grünen Wasser herangeschwebt und schnappte sich den Brocken im allerletzten Augenblick, wie um damit anzugeben, aus der Luft. Der Zwieback zerbrach, während die Möwe sich wieder zu sichererer Höhe aufschwang, aber sie schien doch ein gutes Stück davon im Schnabel behalten zu haben.
Chandagnac hatte noch einen Zwieback in der Jackentasche, aber er schaute dem dahingleitenden Vogel zunächst eine Weile zu und bewunderte geistesabwesend, wie er es schaffte, nur mit einem gelegentlichen Flügelschlag seine Position über der Hecklaterne an Steuerbord der Carmichael zu halten. Schon seit dem Morgengrauen lag ein leichter Landgeruch in der Luft. Kapitän Chaworth hatte gesagt, dass am frühen Nachmittag die purpurnen und grünen Berge Jamaikas in Sicht kommen, dass sie kurz vor dem Abendessen Morant Point umrunden und noch vor Einbruch der Dunkelheit in Kingston anlegen würden. Dann sollte mit dem Löschen der Ladung dem Kapitän auch die lastende Sorge genommen werden, die ihn während der letzten Wochen der Fahrt sichtlich hatte abmagern lassen. Chandagnacs Aufgabe würde allerdings erst mit seiner Ausschiffung beginnen.
Und vergiss nicht, ermahnte er sich, während er den nächsten Zwieback aus der Tasche zog, dass du genau wie Chaworth zumindest zur Hälfte für deine Probleme selbst verantwortlich bist. Diesmal warf er das Stück Brot noch höher und weiter, und die Möwe musste nur ein paar Meter herabfliegen, um es sich zu schnappen.
Als er sich zu dem kleinen Frühstückstisch umwandte, an dem der Kapitän die Passagiere speisen ließ, sofern keine besonderen Erfordernisse der Schiffsführung es unmöglich machten, stellte er überrascht fest, dass die junge Frau aufgestanden war. Der Blick ihrer braunen Augen zeigte lebhaftes Interesse.
» Hat die Möwe den Zwieback erwischt?«, fragte sie.
» Aber klar«, erwiderte Chandagnac und ging ihr entgegen. Er wünschte jetzt, er hätte sich rasiert. » Soll ich ihr Euren Zwieback auch zuwerfen?«
Sie schob ihren Stuhl zurück und überraschte Chandagnac ein weiteres Mal: » Ich werde ihn ihr selbst zuwerfen … Oder glaubt Ihr, dass sie etwas gegen Maden einzuwenden hat?«
Chandagnac blickte flüchtig zur Möwe hinüber. » Jedenfalls hat sie sich nicht von ihnen in die Flucht schlagen lassen.«
Mit einem winzigen Zögern nahm sie den belebten Zwieback und trat an die Reling. Chandagnac bemerkte, dass selbst ihr Gang heute Morgen sicherer war. Als sie über die Reling hinunter in die Wellen sah, wich sie gleichwohl ein kleines Stück zurück, denn das Poopdeck befand sich etwa vier Meter über der rauschenden See. Mit ihrer linken Hand hielt sie sich an der Reling fest und zog prüfend daran, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht nachgab. » Möchte nicht so gern hineinfallen«, sagte sie ein wenig nervös.
Chandagnac trat neben sie und hielt sie am Arm. » Keine Sorge«, sagte er. Er spürte plötzlich seinen Herzschlag und ärgerte sich über seine Reaktion.
Sie holte mit dem anderen Arm aus, warf den Schiffszwieback, und die weißgraue Möwe glitt gehorsam darauf zu und fing den Brocken auf, bevor er ins Wasser fiel. Ihr Lachen, das Chandagnac jetzt zum ersten Mal hörte, war hell und fröhlich. » Ich wette, diese Möwe wartet auf jedes Schiff, das nach Jamaika unterwegs ist, weil sie weiß, dass die Leute an Bord sich nur allzu gern von ihrem alten Proviant trennen.«
Chandagnac nickte, während sie zu dem kleinen Tisch zurückkehrten. » Ich kann mir nicht allzu viel erlauben, aber trotzdem will mir der Gedanke an das Essen heute Abend in Kingston nicht aus dem Kopf gehen. Ein Stück kurzgebratenes Fleisch, frisches Gemüse und ein Bier, das nicht nach heißem Pech riecht.«
Die junge Frau zog die Stirn kraus. » Ich wünschte, mir wäre Fleisch erlaubt.«
Chandagnac rückte seinen Stuhl ein Stück nach links, sodass das hohe, straff gespannte Besansegel die Strahlen der morgendlichen Sonne abhielt. Er wollte die Möglichkeit haben, den Gesichtsausdruck dieser plötzlich interessant gewordenen
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