In Gedanken bei dir (German Edition)
wollte die Tür schon wieder hinter sich schließen, als er in der
Dunkelheit zwischen den Regalen ein ersticktes Keuchen hörte. Cassie hockte auf
dem Boden und weinte. »Es geht mir gut«, flüsterte sie und wischte sich mit dem
Handrücken die Tränen ab. »Ehrlich, es geht mir gut.« Nick ließ die Tür
zufallen, tastete sich durch die undurchdringliche Dunkelheit und hockte sich
neben Cassie, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten.
Wo
war sie? Und wieso ging sie nicht ans Handy?
Beunruhigt
hockte Nick sich auf die Veranda, um den Blick auf die glitzernde Bay und die
gleißende Skyline zu genießen, dann sprang er wieder auf und irrte ziellos
umher, bis er schließlich wieder vor dem Schreibtisch stand.
Der
Brief aus Seattle ...
Nick
hockte sich vor Cassies Notebook und zog das Schreiben zu sich heran, das aus
etlichen Seiten bestand. Die Blätter, die Cassie unterschreiben sollte, waren
mit roten Klebestreifen markiert.
Seine
Hände zitterten, als er die ersten Zeilen überflog.
Alex
hatte die Scheidung eingereicht.
Seine
erste Reaktion? Freude, was sonst! Cassie und er konnten endlich heiraten. Er
konnte für Jolie ein richtiger Daddy sein.
Aber
als Nick mit den Scheidungspapieren aus Versehen gegen die Maus stieß und der
Screensaver auf dem Monitor erlosch, blieb ihm fast das Herz stehen.
Alex.
2
»Mommy, ich wollte nicht, dass Karen es dir
sagt«, schluchzte Jolie an Cassies Brust. Die zarten Schultern unter dem Shirt
zitterten und bebten vor Anspannung, vor Trauer, vor Angst, und die Kleine
schmiegte sich ganz eng an sie. Mutter und Kind passten ineinander wie zwei
Puzzleteilchen. Das Playmobil am Fallschirm hielt Jolie dabei fest in ihrer
Hand.
Mit
Jolie auf dem Schoß, den Kopf an ihrer Schulter, saß Cassie auf dem
Krankenbett. Die neue Bettwäsche hüllte beide ein wie eine Kuscheldecke. Sanft
schaukelnd wiegte Cassie ihre Kleine und summte eine tonlose Melodie, wie
damals, als sie sie nach ihrer Geburt zum ersten Mal im Arm hielt. So saßen sie
seit einer Stunde, fast regungslos, wie gelähmt vor Schmerz, versunken in eine
Umarmung, die Beschützen war, Trost, Zärtlichkeit, Liebe. Die im Moment alles
zu sein schien, was beide auf der Welt hatten. Einander, ganz nah.
Doch
wer tröstet eigentlich wen, fragte Cassie sich. Ich meine Kleine, oder sie
mich?
Jolie
war einfach unglaublich. Cassie wusste noch, wie traurig Nick gewesen war, als
Karen ihnen sagte, Jolie brauche noch eine Chemo. Als sie Nicks bebende Lippen
sah, ging Jolie zu ihm, kletterte auf seinen Schoß und lehnte sich gegen ihn,
einfach so. Sie sagte kein Wort, sie war nur für ihn da. Sie gab ihm einen
Halt, an dem er sich festhalten konnte. Sie bot ihm eine Schulter, an der er
seine Tränen vergießen konnte. Als Cassie ihre Kleine später ins Bett brachte
und zudeckte, fragte sie, wie sie Nick getröstet hätte. Jolie zuckte mit den
Schultern. Sie hätte ihn gar nicht getröstet. Sie wäre nur für ihn da gewesen,
damit er weinen konnte.
Cassie
rieb ihre Nase an Jolies pink geblümtem Kopftuch und küsste sie auf die Stirn.
»Warum wolltest du nicht, dass Karen es mir sagt?«
»Weil,
ich wollte nicht, dass du ganz doll traurig bist, wenn ich sterben muss. Und
dass du wieder so viel weinst.« Jolie öffnete die Finger und betrachtete das
Playmobil. Mit dem Daumen strich sie sanft über die schwarzen Haare und das
lächelnde Gesicht. Dann schob sie nach: »Und Nick.«
Zärtlich
drückte Cassie ihre Kleine an sich. »Hast du ihn lieb?«
Jolie
nickte. »Ganz doll.«
Cassie
wischte ihr die Tränen aus den Augenwinkeln. »Er hat dich auch ganz doll lieb,
Jolie.«
Die
Kleine schloss ihre Finger wieder um das Playmobil und presste es an ihre
Brust.
Eine
Träne rann Cassie übers Gesicht, und sie drückte ihre Wange gegen Jolies
geblümtes Kopftuch.
Es
tut mir gut, meine Kleine, mein Baby, so zu halten, dachte sie. Als ich sie zum
ersten Mal so hielt, ein Neugeborenes, bis zur Nasenspitze in ein flauschiges
Badelaken gewickelt, dachte ich, wie schön sie wäre. Und ich stellte mir vor,
wie sie bei ihrer Hochzeit aussehen würde, wenn ihr Daddy sie zum Altar führen
würde – Alex und ich hatten uns erst neun Monate zuvor getrennt, und die Zeit
schwanger ohne ihn war ein Ausnahmezustand katastrophalen Ausmaßes gewesen.
Als
ich mein süßes Baby ansah, stellte ich mir vor, dass Jolie Kinder haben würde,
mit denen ich eines Tages herumtoben würde. Karens Diagnose vor zwei Jahren hat
diese Träume
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