In Gedanken bei dir (German Edition)
hinter sich schloss. Er musste flach atmen, damit er überhaupt
antworten konnte. Er wünschte, er hätte daran gedacht, etwas Leckeres für sie
zu kochen, das diesen entsetzlichen Geruch überdeckte. »Hallo, Jolie, mein
tapferes kleines Mädchen. Wie geht’s dir?«
Die
Kleine setzte sich im Bett auf und legte das Tablet weg, auf dem sie sich
vermutlich gerade wieder eine Tierdoku des WWF angesehen hatte. Am liebsten
schaute sie Videos mit Delfinen. Jolie sah müde aus, als hätte sie letzte Nacht
nicht geschlafen, und ihre Augen waren rot und verquollen, als hätte sie
stundenlang geheult. »Ganz gut, und dir?«
»Wenn’s
dir gut geht, geht’s mir auch gut.«
Nick
bemühte sich, so zu klingen, als würden sie sich ganz normal unterhalten, ein
Vater mit seiner kleinen Tochter, die er sehr liebhatte. Ein unbefangenes
Gespräch. Aber wann hatten sie das zuletzt geführt?
Und
wann hatten sie das letzte Mal zusammen gelacht, bis ihnen die Tränen übers
Gesicht liefen? Nick erinnerte sich daran. Es war an dem Tag gewesen, als er
ihr das schwarze Shirt mitgebracht hatte, das sie heute trug. Ein süßes Küken
guckt auf ein Spiegelei zu seinen Füßen und fragt: Are you okay?
Hatte
Jolie sich dieses Shirt für heute herausgesucht und angezogen? Zutrauen würde
er es seinem kämpferischen kleinen Mädchen, dessen Stärke er nur bewundern
konnte.
Auf
dem Tisch neben dem Bett stand ein Sicherheitsbehälter aus gelbem Kunststoff
mit einem roten Sicherheitsclip als Deckel. Darin steckte ein ganzer Strauß von
aufgeblasenen Latexhandschuhen. Auf die weißen Ballons mit den fünf
abgespreizten Spitzen hatte jemand mit schwarzem und rotem Eddingstift
Emoticons gekritzelt: grinsende Smileys, weinende mit Tränen in den Augen,
verschmitzt zwinkernde, erstaunte mit einem »Oh!«-förmigen Mund, kichernde mit
der Hand vor dem Mund und sogar eines, das frech die Zunge herausstreckte.
Mit
dem Edding machte das Malen auf den aufgepusteten Latexhandschuhen ein
lustiges, quietschendes Geräusch, über das Jolie sich immer kaputtlachen
konnte. Wer war hier gewesen, um sie zu trösten, als sie weinte? Finn?
»Tauchst
du heute gar nicht?«, wollte Jolie wissen.
»Ich
hab mir heute freigenommen, weil ich viel lieber bei dir bin.« Nick schob den
Infusionsständer mit dem Playmobil am Fallschirm zur Seite und setzte sich
neben Jolie auf das Krankenbett. Sie rutschte zur Seite, um ihm Platz zu
machen, und er rückte nach, legte seinen Arm um sie und küsste sie auf das
geblümte Kopftuch. »Hi«, flüsterte er zärtlich.
Jolie
reckte den Kopf, spitzte die Lippen und schmatzte ihm einen feuchten
Hab-dich-lieb-Kuss auf die Wange. »Hi.«
Sie
schmiegte sich an ihn, und er hielt ihren kleinen, zarten, weichen Körper fest
in seinen Armen.
Das
Licht brach durch den Nebel über dem Golden Gate Park und beleuchtete die
Fototapete an der Wand gegenüber dem Bett. Das Bild, das Cassie im Internet
entdeckt hatte, war wirklich atemberaubend. Ein Sonnenuntergang über dem Strand
einer tropischen Insel. Das grelle Licht der sinkenden Sonne ließ die Wolken
rot aufglühen, erleuchtete die gischtigen Wellen von innen in Orange und
Violett und spiegelte sich gleißend auf dem blauen Schaum, der sich über den
nassen Sand ergoss. Das Inselparadies war so realistisch, farbenfroh und
lebendig, dass Nick sich für einen Augenblick hineinträumen wollte, um sich in
einer Hängematte zu räkeln und auf das Rauschen der Wellen zu lauschen.
Das
Piepsen einer Infusionspumpe draußen auf dem Gang riss ihn aus seinen
Träumereien. War Finn, der kleine Superheld, in seinem Kampf gegen das Böse
wieder mit dem Batmobil unterwegs?
»Ich
hab dich vorhin auf dem Gang gehört.« Jolie legte den Kopf in den Nacken und
guckte zu ihm hoch. »Du hast mit Karen geredet.«
»Mhm.«
»Aber
das ist schon eine halbe Stunde her. Nee, viel länger. Wo warst du?«
»Ich
habe versucht, Mommy zu erreichen.«
»Ich
auch, seit dem Piksen heute Morgen. Aber sie geht nicht an ihr Handy. Weil, ich
will sie fragen, ob sie Daddy schon gefunden hat.«
Nick
presste die Lippen gegen ihr geblümtes Kopftuch und nuschelte: »Jolie, meine
Süße ...«
»Wann
kommt Mommy mit Daddy nach Hause?«
Nick
nahm all seinen Mut zusammen. »Heute nicht, Jolie. Vielleicht morgen.«
Zuerst
nickte sie nur mit gesenktem Kopf, doch dann konnte sie ihre Gefühle nicht mehr
zurückhalten. Schluchzend ließ sie sich zur Seite fallen, rollte sich auf dem
Bett zusammen und weinte bitterlich. Tränen
Weitere Kostenlose Bücher