In Gedanken bei dir (German Edition)
grauem Geröll zum Toutle River ab, der in der Mittagssonne
glitzerte. Rechts von ihr breitete sich ein junger Wald am schroffen Felshang
aus. Zwischen den zerklüfteten Klippen klammerten sich Lupinen in die dünne
Erdschicht. Als sie stehen blieb, um den geborstenen Gipfel des Mount St Helens
zu betrachten, merkte sie, wie verkrampft ihre Schultern waren. Sie bebte vor
nervöser Spannung. Ihre Hände hatte sie unwillkürlich zu Fäusten geballt, so
fest, dass ihre Fingergelenke schmerzten.
»Nein,
nicht wegen des Erdbebens«, sagte Alex hinter ihr. Der Wind wehte seine Worte
in ihre Richtung. »Cassie ist aus San Francisco gekommen. Sie ist die ganze
Nacht gefahren, weil sie mit mir reden will.«
Cassie
zog die Hände aus den Taschen, verschränkte die Arme vor der Brust und
überlegte, ob sie den Berg hinter den blühenden Lupinen fotografieren sollte.
Sie spürte das Zittern in ihren Armen, ihren Händen, ihren Fingern. Sie
vibrierte innerlich, als ob sie fror. Ihr ganzer Körper tat weh. Das war die
Müdigkeit, die geistige und körperliche Erschöpfung.
Ȇber
die Scheidung. Über uns.«
Sie
wollte nicht hören, was Alex über sie erzählte, ging weiter und zog ihr
Smartphone aus der Tasche, um ein Foto für Jolie zu machen. Das letzte
Telefonat, das sie mitgehört hatte, war einfach zu verletzend gewesen. Das war vor
sechs Jahren gewesen. Cassie hatte Alex auf seinem Handy angerufen, um ihn zu
fragen, wann er nach Hause käme. Mit einem Freund vom Katastrophenschutz in San
Francisco war er im Cliff House essen gegangen. Nach dem Gespräch legte Alex
sein Handy auf den Tisch, ohne es auszuschalten. Als sie auflegen wollte, hörte
sie seinen Freund noch fragen: »Hast du Cassie eigentlich schon gesagt, dass du
dich von ihr trennen willst?«
Die
Erinnerung an jenen Abend, als Alex seine Sachen in seinen Chevy Blazer packte
und aus ihrem Leben verschwand, trieb ihr wieder die Tränen in die Augen.
Zehn
Jahre war sie mit Alex verheiratet. Zehn Jahre ihres Lebens. Die Trennung war
... wie sagte man? ... gütlich. Sie waren als Freunde auseinander gegangen,
ohne viele Worte, aber voller Gefühle, enttäuscht, traurig über ihr Scheitern
als Liebende. Er war einfach aus ihrem Leben verschwunden, ohne etwas zu
hinterlassen – außer Jolie. Sie hätte der Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens
sein können. Doch ihre Lebenswege führten voneinander fort, und der Pfad, den
sie gemeinsam gegangen waren, mündete in einen Nebel von Erinnerungen, die
meisten unbeschwert und wunderschön, aber viele schmerzhaft und verletzend.
Cassie
blinzelte die Tränen fort, schoss das Foto vom Gipfel und dachte: Ich steh das
hier durch. Ich tu es für Jolie.
»Keine
Ahnung.« Mit dem Satellitentelefon setzte Alex sich auf die Transportkiste des
GPS-Moduls, streckte die langen Beine aus und kreuzte die Füße. Das Gespräch
würde offenbar länger dauern. »Bisher hat sie weder einen Mann noch ein Kind
erwähnt. Sie wirkt angespannt. Dabei versucht sie den Anschein von Besonnenheit
zu erwecken, von selbstbeherrschter Gelassenheit. Aber ich kenne sie genau. Ich
bin ja schließlich mit ihr verheiratet. Okay, ja, noch .«
Cassie
zoomte Alex heran, ohne dass er es bemerkte, und machte eine Aufnahme nach der
anderen. Sein Gesicht. Seine Hände.
Er
zögerte kurz, schaute rasch zu ihr herüber, ob sie mithören konnte, dann sprach
er leise weiter: »Ich habe sie gefragt, ob sie jemandem Bescheid sagen muss,
bevor wir in die Wildnis aufbrechen. Sie sagt: Nein. Dabei zieht die Schultern
hoch. Aber weißt du, was seltsam ist? Sie dreht hier eine halbe Naturdoku mit
ihrem Smartphone und versucht die Fotos und Videos zu versenden, findet aber
kein Netz. Sie wirkt enttäuscht. Wem will sie die Aufnahmen schicken?« Ein
Rascheln im Gras übertönte seine Worte. »... gern wissen, ob sie allein ist.
Sie ist so traurig, so verzweifelt. So kenne ich sie gar nicht, und ich mache
mir wirklich Sorgen um sie. Cassie und ich gehen heute Abend zusammen essen. Es
kann also spät werden.«
Marlees
Antwort konnte Cassie natürlich nicht hören. Aber sie konnte sich denken, dass
sie sich gerade vorstellte, Alex und sie würden zwischen den Kerzen auf dem
Tisch Händchen halten und dabei in einem warmen Gefühl der Vertrautheit
schwelgen, in gemeinsamen Erinnerungen an gute und schlechte Zeiten, die sie
zusammen durchgestanden hatten. Und was hatten sie beide alles erlebt! Ihr
gemeinsames Leben war ein aufregendes Abenteuer! Wie spannend würde es
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