In Gedanken bei dir (German Edition)

Stille, und doch suche ich sie,
weil es eben meine Art zu leben ist. Aber ich will nicht mehr an der Liebe, dem
Leben, dem Glück vorbeileben.
    Ein
Fall von Midlife Crisis, wie meine Kollegen frotzeln? Eine messbar reziproke
Proportionalität zwischen meinem Lebensalter und der Sehnsucht nach der
Geborgenheit in einer Familie, auch wenn die Kinder nicht meine eigenen sind –
ein eindeutig invertiertes Verhalten im Vergleich zu meinen Freunden, die sich
wie Jake in einer ersten Panikattacke ein Quad anschaffen.
    Nein,
ich werde mir kein Quad kaufen, sondern einen Q7. Ein Familienauto, sportlich
zu fahren, aber nicht wirklich abenteuer-, expeditions- und geländetauglich.
Die Schule liegt nur ein paar Minuten von Marlees Haus in Sunnyside entfernt.
Bevor ich ins Büro fahre, könnte ich die Kids zur Schule fahren. Ihre Rucksäcke
wiegen nämlich mehr als die Kinder selbst. Auch ohne Nintendo,
Plastik-Triceratops-Skelett und Plüscheichhörnchen samt Nuss aus Ice Age .
Marlee könnte die Kids nachmittags wieder abholen. Und wenn ich nach Hause
komme, helfe ich Leah, Shari, Jordan und Jaycie mit den Hausaufgaben, vor allem
bei Mathe, Chemie und Physik, und danach spiele ich noch ein bisschen mit
ihnen. Na klar, nicht Second Life , denn wir brauchen dann ja keine
Avatare mehr, um uns in der virtuellen Welt zu begegnen, sondern teilen unser
erstes und einziges Leben miteinander. Als wir selbst.
    Natürlich
habe ich ein bisschen Angst davor, wenn ich plötzlich ein Daddy bin – Jaycie
hat mich erst vor wenigen Tagen gefragt, ob sie mich dann so nennen darf. Aber
ich freue mich auch darauf, diese Verantwortung zu übernehmen. Schon wegen
Marlee. Wenn ihr Ex, Jaycies Vater, noch mal muckt, fängt er sich eine – ganz
offiziell, wegen seines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen. Es reicht
jetzt, wirklich! Wenn er wieder vor dem Haus steht und Marlee zu Tode
erschreckt und wenn er noch mal seine kleine Tochter auf Facebook unter Druck
setzt, sich mit ihm zu treffen, dann bringt ihn der Sheriff mit Blaulicht und
Handschellen zurück ins Oregon State Penitentiary, eines der gefürchtetsten und
härtesten Gefängnisse im Nordwesten der USA.
    Klingt
einfach toll, oder? Echt edüllisch, das Ganze, wie Jaycie sagen würde.
    Es
ist toll. Und doch kann ich Cassie nicht vergessen.
    Was
verbindet uns noch – außer dass wir seit einer Weile wieder Händchen halten?
Die Liebe füreinander? Ja. Aber auch die Angst um den anderen. Nicht die Angst,
dass der andere in Gefahr geraten könnte, so wie früher, dass ihr Forschungsschiff
in einen Sturm geraten könnte oder dass ich von einer Expedition in eine
Lavatube nicht zurückkehren könnte. Sondern die panische Angst, dass wir
einander nach der Scheidung endgültig verlieren würden. Ich weiß nicht, ob ich
das will ...
    Nein,
ich will es nicht. Ich könnte das nicht ertragen.
     
     
    Auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht,
deren steile Wände sie an die Painted Desert in Arizona erinnerten, stießen
Alex und Cassie auf einen Trail. Sie folgten ihm bergauf, bis sie schließlich
den Weg erreichten, der an den Bergflanken der Johnston Ridge zur
Aussichtsplattform des Visitor Centers führte.
    Arm
in Arm blickten sie zurück auf den Mount St Helens und bemerkten erst jetzt die
aufsteigende Rauchsäule über dem Krater. Was war das? Aufgewirbelte vulkanische
Asche? Oder eine Dampferuption, die zusammen mit dem Erdbeben einen Ausbruch
ankündigte?
     
     
     

     
     
     
    Die Uhr auf ihrem Tablet in der Halterung auf
dem Armaturenbrett zeigte kurz vor sieben Uhr abends, als Cassie den Spirit
Lake Highway verließ und in die Abfahrt zum Hoffstadt Bluffs Visitor Center
einbog.
    Sie
fuhr an dem Haus aus Feldsteinen und Holz vorbei zum Parkplatz, schaltete den
Motor aus, lauschte auf das Knistern und Knacken unter der Motorhaube und
wartete eine Weile auf Alex, der zusammen mit ihr am Johnston Ridge Observatory
losgefahren war.
    Wo
blieb er denn?
    Cassie
stieg aus und lehnte sich gegen die offene Fahrertür. Das stetige Pingen nervte
sie, also schloss sie die Tür.
    Vielleicht
musste Alex noch mal mit dem Cascades Volcano Observatory in Vancouver
telefonieren?, überlegte sie. Ja klar, das wird es sein. Ein Schwarm von Beben
unterhalb des Vulkans. Gasblasen, die aus dem Spirit Lake aufsteigen. Und eine
dunkle Wolke über dem Mount St Helens.
    Bei
all dem bleibt Alex erstaunlich gelassen. Das überraschende Erscheinen seiner
Ex, die mit ihm über die Scheidung reden will, hat ihn