In Gedanken bei dir (German Edition)
versunkene Haltung ein wie Cassie und
brachte sie auf diese Weise dazu, dass sie sich aufrichtete. Ein
psychologischer Trick, ja klar, aber er wirkte.
Dr
Mayfield war mehr als nur Jolies Kinderonkologin, die ihre Krankheit
festgestellt hatte, als sie vier war, und die sie seitdem behandelte. Karen war
eine Freundin, die Cassie durch ihre offene, unkomplizierte Art Hoffnung und
Zuversicht gab. Seit einer durchwachten Nacht an Jolies Bett, die auf der
Intensivstation der Kinderklinik mit dem Tode rang, duzten die beiden Frauen
sich.
Die
Chefärztin der Kinderonkologie und Expertin für Intensivmedizin arbeitete fast
immer am Limit. Welche Belastung war es für Karen, wenn sie monatelang
vergeblich um das Leben eines Kindes rang! Aber sie hatte noch die Kraft, sich
Cassies Gefühlen zu stellen, und das rechnete Cassie ihr hoch an.
»Wo
ist Jolie?«
»Bei
Nell«, sagte Karen sanft. »Sie ist letzte Nacht gestorben.«
Cassie
nickte schwach. »Finn hat es mir eben erzählt.«
»Ich
wollte es dir sagen. Tut mir leid.«
»Schon
gut. Karen ...« Cassie holte tief Luft.
Dr
Mayfield ahnte, was sie sagen wollte und drückte ihre Hand. »Nein, Cassie.«
»Aber
es ist ihre letzte Hoffnung!«
»Nein,
Cassie«, wiederholte Karen eindringlich und besonnen. »Als Mutter kommst du als
Spenderin nicht infrage. Du hast ihr das Leben geschenkt, aber du kannst sie
nicht retten. Jolie hat die Hälfte der HLA-Merkmale von dir, die andere Hälfte
von Alex.«
Cassie
atmete langsam aus.
Alex.
Sein
Brief.
Die
Dokumente, die sie unterschreiben sollte.
Sie
lagen noch auf ihrem Schreibtisch, wo sie sie gelesen hatte ... wo sie Alex
gegoogelt hatte ... wo sie herausgefunden hatte, wo er jetzt lebte. Sie waren
der Beweis dafür, dass alles, was ihr wichtig war, von einem Tag auf den
anderen zu Ende gehen konnte ...
Mit
beiden Händen fuhr Cassie sich über das glühende Gesicht. Dann betrachtete sie
das Foto auf Jolies Nachttisch von ihnen beiden am Strand. Nick hatte die
Aufnahme im sanften Gegenlicht des Sonnenuntergangs über dem Pazifik gemacht.
Hand in Hand ging Cassie mit Jolie über den schimmernden nassen Sand, der den
Himmel, die Wolken und die Sonne spiegelte. Jolie hopste kichernd neben ihr
durch die Gischt der heranrollenden Wellen. Dabei berührte sie ihren
reflektierten Schatten nicht, und es sah so aus, als tanzte ihr funny little
girl über Wolken aus fliederfarbenem und orangerotem Licht.
Das
Foto einer glücklichen Familie, so erschien es auf den ersten Blick: Mommy,
Daddy und ihre süße Kleine am Strand. Aber so war es nicht. Denn das Foto war
am Abend vor Jolies Zusammenbruch und der Untersuchung durch Dr Mayfield
aufgenommen worden.
Karen
missverstand ihre hochgezogenen Schultern, ihre ineinander verkrampften Hände.
Sie legte ihre Hand auf Cassies Arm. »Ich werde nicht transplantieren, Cassie.
Wenn ein Kind an einer unheilbaren Krankheit stirbt, ist das etwas, womit ich
als Ärztin gelernt habe umzugehen. Aber wenn ein Kind an den Folgen eines
Eingriffs, den ich vorgenommen habe, qualvoll zugrunde geht, kann ich das als
Mensch nicht verantworten. Tut mir leid, Cassie. Die Abstoßungsreaktion ist das
Schlimmste, was du dir vorstellen kannst, das Schrecklichste, was du deiner
Kleinen antun kannst. Ich kann dein Kind nicht heilen, wenn wir keinen
passenden Spender finden, und ich will Jolie nicht zu Tode quälen.«
Cassie
nickte langsam. Ihr Nacken war so verkrampft, dass die Bewegung schmerzte. »Wie
lange noch?«
Karen
schnaufte durch die Nase. »Ich weiß es nicht.«
»Monate?«
»Nein,
Cassie.«
»Wochen?«
Karen
nickte stumm.
Cassie
barg das Gesicht in beiden Händen und schluchzte auf. Der Schmerz in ihr war
unerträglich. Er zerriss sie.
»Ich
kann gut verstehen, wie du dich jetzt fühlst, Cassie. Du hast panische Angst.
Du bist wütend, traurig und hilflos. Du willst schreien und um dich schlagen.
Dein Kind zu verlieren!« Karen atmete tief durch. »Natürlich willst du alles
tun, um Jolies Leben zu retten. Du schenkst ihr Liebe, Geborgenheit,
Sicherheit. Du erklärst ihr anhand von Bilderbüchern für Kinder, warum sie so
leiden muss.
Du
und ich, Cassie, wir haben alles getan, wirklich alles. Spritzen. Infusionen.
Tabletten. Einspritzungen in die Wirbelsäule. Bluttransfusionen. Operationen.
Bestrahlungen. Morphiumspritzen gegen die Schmerzen. Antibiotika gegen die
Infektionen. Wochenlang lag deine Kleine im Halbkoma auf der Intensivstation.
Deine Tochter lebt in diesem Zimmer, hier hat sie
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