In guten wie in toten Tagen
weiß.«
»Wer weiß was?«, fragte Cara.
»Wer weiß was?«, wiederholte Vitali und grinste schon wieder. »Das ist hier die Frage. Ganz genau.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Ich kann mir selbst nicht folgen. Zu viel Bier.«
Sie nickte. »Schlaf gut, Vitali.«
»Ich würde dich gerne besser kennenlernen«, sagte er. Dann fuhr er los.
Nachts kam wieder der Fremde. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, hörte ihn näher kommen und konnte sich nicht rühren. Lag wie gelähmt in ihrem Bett, versuchte zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. Diesmal kam er noch näher als beim ersten Mal. Er trat an ihr Bett und beugte sich über sie, sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht und wie er eine Hand ausstreckte und ihre Schulter berührte. Und durch die Berührung schickte er sie in einen anderen Traum.
In einen wunderschönen Garten schickte er sie, in dem Rosen blühten, Vögel zwitscherten, Bienen summten. Irgendwo plätscherte Wasser. Cara lief einen verschlungenen Weg entlang, an duftenden Blumenbeeten vorbei, unter blühenden Bäumen durch, und stand plötzlich vor einer Tür. Bevor sie anklopfen konnte, ging die Tür auch schon auf. Da stand Helena vor ihr und hielt ein Kissen in den Armen und auf dem Kissen lag ein Kind. Schau nur, sagte Helena und lächelte. Ich bin so glücklich. Freust du dich auch?
Und reichte Cara das Kissen, auf dem das Kind lag. Und Cara nahm das Kissen und sah das Kind an, da war es eine Puppe.
Und dann wachte sie auf.
Schweißnass.
Der Wecker auf dem Schreibtisch zeigte halb vier.
Der Traum. Der Fremde in ihrem Zimmer. Helena. Das Kind. Ob sie wirklich schwanger war? Cara versuchte, sich Helena mit einem dicken Bauch vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Ein Kind passte noch weniger zu ihr.
»Ich vermisse dich so«, flüsterte Cara und spürte ihre Sehnsucht, wie sie aus ihrem Körper strömte, wie sie durchs Zimmer flog und durch ihr offenes Fenster, in die dunkle Stadt bis zum Gefängnis. Wo Helena in einer Zelle lag und schlief oder ebenfalls wach lag und weinte. Und sich sorgte.
»Nicht verzweifeln, Helena«, flüsterte Cara.
Sie stellte sich vor, dass ihre Gedanken Helena berührten und trösteten. Und fragte sich, ob Helena auch an sie dachte.
Bevor Cara schlafen gegangen war, hatte sie ihre E-Mails gecheckt. Isy hatte geantwortet.
Ihre Nachricht war sehr kurz. »Meine Mum hat erzählt, was passiert ist. Unfassbar. Die arme Helena!! Natürlich war sie es nicht, ist doch klar. Sie hat Tom echt geliebt. Halt mich auf dem Laufenden. Ich bin immer noch sehr krank und meld mich per Skype, wenn’s mir wieder besser geht.«
May hatte nicht zurückgeschrieben. Und Viola hatte ebenfalls nichts von sich hören lassen. Oder doch?, überlegte Cara jetzt. Vielleicht hatte sie ihr Handy nicht gehört, als sie mit Vitali im Biergarten gewesen war.
Sie stand auf, holte ihr Telefon aus der Jeanstasche und fand drei Anrufe auf der Mailbox.
»Hier ist May, was gibt’s denn? Ruf mich zurück, aber bitte nur abends. Tagsüber bin ich im Sender, da ist das Handy meistens aus.«
May machte zurzeit ein Praktikum beim Privatradio, fiel Cara jetzt wieder ein. Nach dem Abi hatte sie zuerst ein Studium angefangen und wieder geschmissen, dann hatte sie in einer Tierarztpraxis gejobbt und vor Kurzem hatte sie das Praktikum beim Radio begonnen, das ihr allerdings auch nicht gefiel. Zu viel Arbeit, zu viel Stress. Zu wenig Glamour. »Ich dachte, da gehen die Stars ein und aus. Aber nix. Einmal war ein Teilnehmer von Voice of Germany im Haus, das war schon das höchste der Gefühle«, hatte sie am Samstagabend erzählt.
Der zweite Anruf war von Viola.
»Hi, Cara. Hast du Neuigkeiten von Helena? Du kannst mich bis Mitternacht erreichen oder morgen Vormittag, ich hab keinen Unterricht.«
Und auch die dritte Nachricht war von ihr.
»Ach übrigens. Ich bin morgen wieder in Geldern bei meinen Eltern. Wenn du magst, können wir uns auch treffen.«
Viola, die Sanfte, die Stille. Was konnte sie gegen Helena haben? Cara beschloss, sie gleich am nächsten Morgen anzurufen und sich mit ihr zu treffen. Dafür würde sie sich bei der Arbeit noch einmal krankmelden. Renzo würde das verstehen. Müsste das verstehen. Oder auch nicht. Scheißegal, dachte Cara.
Dann musste sie an Vitali denken, der enttäuscht wäre, wenn sie nicht zur Arbeit käme. Er hatte ihr versprochen herauszufinden, wer Tessis Vater war. Und natürlich erwartete er etwas dafür, keine Leistung ohne Gegenleistung, so war
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