In guten wie in toten Tagen
Tom umgebracht habe? Sie werden über dich herfallen. Deine Eltern, deine Kumpel. Die Presse. Kalle, Renzo, alle.«
»Das werden sie. Eine Weile lang. Dann werden sie sich wieder abregen.«
»Warum willst du dir das antun?«, fragte sie.
»Das weißt du doch. Weil ich dich liebe.«
»Liebe«, sagte Cara bitter. »Was ist das schon? Weißt du, was das Allerschlimmste an der ganzen Geschichte ist? Dass Helena mich da reingetrieben hat. Sie wollte, dass ich Tom umbringe. Sie hat mich zu ihm geschickt, weil sie sich selbst die Finger nicht schmutzig machen wollte.«
»Vielleicht«, sagte Vitali. »Nach allem, was ich über sie gehört habe, würde es mich nicht einmal wundern.«
»Ich kann es ihr nicht beweisen.«
»Willst du das denn?«
»Ich will einfach die Wahrheit wissen.«
Die Wahrheit ist niemals einfach.
»Du musst sie fragen. Aber wenn sie es war, wird sie es dir nicht sagen.«
»Ich kann aber nicht weiterleben, wenn ich es nicht weiß.«
Vitali kauerte neben ihr. Sein Gesicht war ein helles Oval auf dem dunklen Wasser.
»Wie konnte ich mich nur so in Helena täuschen?«, flüsterte Cara. »Wie konnte ich mich nur so von ihr täuschen lassen?«
»Du wolltest, dass sie perfekt ist«, sagte Vitali. »Aber das ist sie nicht. Sie hat ihre Stärken und ihre Schwächen. So wie ich. So wie du. So wie alle.«
Ich wollte, dass Helena perfekt ist. Und Helena wollte, dass Tom perfekt ist. Und als sie gemerkt hat, wie schwach er ist, wollte sie, dass ich ihn umbringe, dachte Cara. Und ich habe es getan. So schließt sich der Kreis.
»Sie ist genau wie mein Vater«, sagte sie. »Ich hasse sie.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Vitali. »Du hängst an ihr, so wie sie an dir hängt. Du brauchst sie, so wie sie dich braucht.«
Cara dachte daran, wie sie früher zu Helena ins Bett gekrochen war. Im Wohnzimmer hatten sich ihre Eltern gestritten, und sie hatten sich aneinandergekuschelt. Und hatten sich gegenseitig gewärmt. Helena Cara. Und Cara Helena. Sie braucht dich, so wie du sie brauchst.
»Aber das ist nicht das Entscheidende«, sagte Vitali. »Das, worauf es ankommt.«
»Worauf kommt es denn an?«
»Auf dich. Dass du nicht auseinanderbrichst. Dass du nicht einen Teil von dir verlierst.«
Aber das ist doch längst passiert, dachte Cara. Ich hab mich doch schon verloren. Ich bin doch schon auseinandergebrochen. In der Nacht, in der ich Tom ermordet habe. Ein Teil von mir sticht Tom die Augen aus. Und die andere Hälfte will es nicht wahrhaben. Ein Teil von mir ist ein Mörder. Und der andere Teil schaut weg und blendet alles aus.
»Ich habe Angst«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte Vitali.
Ihr war plötzlich kalt und das Meer war auch nicht mehr schön, es war schwarz und furchtbar. Sie watete zum Strand und Vitali folgte ihr und trocknete sie mit seinem T-Shirt ab und dann sich selbst, obwohl das Hemd inzwischen vollkommen durchnässt war. Danach zogen sie sich wieder an. Cara setzte sich in den Sand, wrang das Wasser aus ihren nassen Haaren und fror. Vitali ließ sich neben ihr nieder.
Er war ihr so nahe. Er hätte sie gerne geküsst, aber er traute sich nicht und sie traute sich auch nicht. Vielleicht ist das alles, was uns bleibt, dachte Cara. Diese eine Nacht am Meer. Und wir sitzen hier und schweigen, anstatt uns zu küssen.
»Irgendwann kommen wir wieder her«, sagte Vitali, als ob sie den Gedanken laut ausgesprochen hätte. »Wenn die Sonne scheint. Wenn es warm ist.«
»Irgendwann«, sagte Cara. »Aber wann?«
»Ist doch egal«, sagte Vitali. »Hauptsache, es passiert.«
Cara legte ihren Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Und stellte sich vor, dass es jetzt schon so weit wäre, dass die Sonne schien und überall saßen Leute auf Handtüchern und Kinder bauten Sandburgen. Und alles roch nach Sonnenmilch und Pommes. Der Himmel war hellblau, das Meer war dunkelblau und sie war frei und stark und hatte keine Angst mehr und in ihrem Inneren war alles ruhig. Sie konnte Vitali küssen, wenn ihr danach war. Und brauchte niemanden mehr, der ihr die Richtung vorgab, der sie an der Hand nahm und führte. Weil sie selbst den Weg kannte.
»Hauptsache, es passiert«, flüsterte sie.
prozess
am 10. Januar
wird angeklagt
und verteidigt
mein fall
mein tiefer fall
das urteil ergeht
im namen des volkes
aber in der ferne rauscht das meer
Danke
Manche Autoren lassen sich ja nicht in ihre Arbeit reinreden. Sie schreiben, was sie schreiben, und wissen von Anfang an ganz genau,
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