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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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Gesicht?«
    Sie blickte mich an und ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. » Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, » um das herauszufinden, muss ich das Bild zu Ende malen.« Sie wies mit einem leichten Kopfnicken auf meine Tasse. » Trink deinen Tee. Du musst dich ausruhen, ruhig bleiben, und du sollst dich nicht aufregen. Trink deinen Tee, und ich mache dir etwas zu essen.« Sonst sagte sie nichts, begann nur stumm, einen Teller mit Sandwiches und Apfelschnitzen zuzubereiten. Ich wusste, das war ihre Art, ein Gespräch zu beenden – und aufgrund der nachfolgenden Geschehnisse dauerte es mehrere Wochen, ehe ich sie wieder nach dem Porträt fragen konnte. Maia war da längst fort, und ich fragte mich, ob ich mich nicht doch in ihr geirrt hatte – fragte mich, ob sie nicht ebenso ein Opfer der Huldra war wie die Brüder Sigfridsson und Martin Crosbie. Also erkundigte ich mich nach dem Bild, denn ich wusste, dass Mutter in jenen letzten Tagen, in denen sie an diesem Bild gemalt hatte, die Wahrheit über die echte Maia herausgearbeitet haben würde. Allerdings hätte ich auch wissen müssen, dass sie es mir nicht zeigen würde – sie wollte nicht riskieren, dass ich die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durchleben musste –, trotzdem machte mich die Lüge betroffen, mit der sie mich abspeiste. Das Porträt sei nichts geworden, sagte sie, und da sie Leinwand für ein neues Bild benötigt habe, hätte sie es einfach übermalt. Ich war schockiert, nicht nur, weil ich wusste, dass es nicht stimmte, sondern auch, weil ich begriff, dass sie das Bild vor mir verbarg – und das hatte nichts mit meiner psychischen Verfassung zu tun. Der eigentliche Grund war vielmehr, dass ihr das Bild durchaus gelungen war; sie hatte den Blick der Huldra eingefangen, und trotz all des dargestellten Schreckens brachte sie es nicht über sich, das Bild zu vernichten. Also behielt sie es, und noch während sie in der Küche stand und mich belog, wusste ich, dass dieses Porträt irgendwo existierte – wenn nicht in unserem Haus, dann in einem Lager der Galerie Fløgstadt oder an der Zimmerwand irgendeines Sammlers in Oslo oder Los Angeles: die kalten Augen der Huldra, die aus dem Gesicht eines gewöhnlichen Mädchens blickten, eines Mädchens, das die Tochter der Künstlerin sein könnte, auch eine Freundin der Familie, die stundenlang in einem kahlen Atelier gesessen hatte, während das Licht des späten Sommers über ihr Gesicht spielte und das entsetzliche Geheimnis offenbarte, es zugleich aber auch schönmalte.
    ***
    Während der nächsten beiden Tage behandelte Mutter mich weiterhin, als wäre ich krank, brachte mir Suppe mit Zwieback oder eine Tasse mit süßem Milchkaffee ins Zimmer und gab sich größte Mühe, mich dort zu behalten, sagte, dass es mir noch nicht gut gehe, dass sie sich um mich Sorgen mache, ich noch unter Schock stehe, all das, was man jemandem so sagt – ohne allzu sehr um den heißen Brei herumzureden –, von dem man annimmt, dass er nur knapp einem Nervenzusammenbruch davongekommen war. Und es stimmte: Ich spürte, dass ich einen Schock erlitten hatte, wenn auch nicht die Art Schock, die Mutter meinte, und ich fühlte mich benommen und schwach, womit ich allerdings nicht sagen will, mir wäre entgangen, was unten geschah, oder dass es mich daran gehindert hätte, Mutter nicht eigene Gründe dafür zu unterstellen, warum sie mich aus dem Weg haben wollte. Ich sah es ihrem Gesicht an, wenn sie mir die Suppe brachte: eine Art Appell, verborgen unter ruhigem Äußeren, und hinter dem Appell die Entschlossenheit, das Porträt zu vervollständigen, komme, was da wolle. Es war ihr sehr wichtig geworden, zu Ende zu bringen, was sie angefangen hatte. Später sah ich das Bild, das in jenen wenigen Tagen mit Maia entstand: das schreckenerregende Gemälde eines kalten, manischen Kindes in etwas, das, wenn auch nicht ganz, dem Körper einer Frau entsprach – und an jenem Tag, als die Huldra längst in die Dunkelheit des verklungenen Sommers verschwunden war, verblüffte mich die Einsicht, dass, was immer Mutter auch in Maias Gesicht gesehen haben mochte, die von ihr gemalte, auf subtile Weise fantastische Gestalt sich nicht sonderlich von der Huldra in Kyrres Geschichten unterschied. Ich glaube sogar, dass Mutter diese Gestalt schon in jener ersten Nacht gesehen hat, als Maia sich gerade erst von dem ertrinkenden Martin abgewandt hatte und sie mich nach diesem Mädchen fragte, nicht, weil sie sich darum

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