In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Bedingung verfolgen, was kein Mensch sonst sehen darf, und diese Bedingung lautet, dass sie niemals etwas verrät. Das unterscheidet sie von der Zeugin oder dem zufälligen Passanten. Ich kann sogar behaupten, dass sie sich dadurch auch von der Malerin unterscheidet. Denn Bilder sind ebenfalls eine Form, Zeugnis abzulegen. Wenn Mutter ihr Werk in irgendeiner Galerie in Oslo oder London zeigt, offenbart sie, was sie gesehen hat, und das Geheimnis wird verraten – mir fällt jetzt auf, dass sie dies von Anfang an gewusst hat und dass sie deshalb aufgehört hat, Porträts zu malen. Dass sie deshalb mein Porträtbild nicht vollendet hat. Sie wollte, dass dieser Blick ein Geheimnis blieb.
Ich wollte keine Zeugin sein, und irgendwie wusste ich, dass Martin Crosbie nicht mehr zu helfen war – der wahre Grund aber, der heimliche Grund, warum ich nichts tat, war der, dass ich auf keinen Fall noch einmal von diesem Mädchen gesehen werden wollte. Von Maia. Sie sollte nicht wissen, dass ich sie von Anfang an beobachtet hatte, und sie sollte nicht glauben, ich könnte etwas bezeugen, das aus welchem Grund auch immer und welch verquerer Logik zufolge allein ihr und Martin Crosbie und niemandem sonst gehörte. Sie sollte nicht sehen, dass ich zugesehen hatte, denn – und dies ist das Schlimme, das eine, das ich bis heute nicht vergessen kann – sie sollte nicht wissen, dass ich nicht bloß verstand, warum Martin in jenem Moment glücklich war, als er die Bootkante losließ und im stillen, perlmuttfarbenen Wasser verschwand, sondern auch, warum sie, Maia, der hübsche Wildfang, den ich mein Leben lang immer mal wieder irgendwo in der Stadt getroffen hatte, dieses familienlose Mädchen, das uns leidtat und dem wir alle aus dem Weg gingen, warum sie in jenem Moment in jemand – in etwas – unvernünftig und auch unerklärlich Schönes verwandelt wurde. Heute klingt das lächerlich, aber ich weiß, was ich gesehen habe. Ich kann es nicht vergessen. Solange Maia dort stand, am Rand des Wassers, und dorthin sah, wo das leere Boot in der weißen Nacht dümpelte, war sie auf eine Weise schön, die sich in Worten nicht ausdrücken lässt. Als dann Mutter und ich kamen und sie bei der Hytte trafen, wurde sie wieder sie selbst: Maia, das hübsche, wenn auch etwas merkwürdig aussehende Mädchen, das sie schon immer gewesen war.
Trotz alldem aber frage ich mich heute, warum ich nicht mehr getan habe. Warum ich nicht überall erzählte, was es doch für ein Zufall war, dass sich Maia kurz vor dem Tod der Brüder Sigfridsson mit ihnen angefreundet hatte und dass sie dann, ehe Martin Crosbie verschwand – eine Leiche wurde nie gefunden, also ist nichts bewiesen –, zu ihm in die Hytte zog. Aber wer hätte mir geglaubt? Martin Crosbie war verschwunden, so viel stand fest, nur deutete nichts darauf hin, dass er tot war. Im Gegenteil, sämtliche Indizien besagten, dass er seine Sachen gepackt und dahin zurückgekehrt war, woher er gekommen war. Man fand keine Leiche, keine Anzeichen für ein Verbrechen, wie es in Kriminalromanen heißt, und auch die Rechnung mit Kyrre Opdahl war beglichen. Noch bedeutsamer war die Tatsache, dass auch das Auto fehlte, als Kyrre Opdahl zur Hytte ging, an ebenjenem Morgen, an dem ich gesehen hatte – oder vielmehr nicht gesehen hatte –, wie Martin Crosbie aus dem Boot glitt. Offenbar hatte Kyrre gleichfalls gespürt, dass irgendwas nicht stimmte, und er kam, um zu sehen, was los war, aber die Hytte war leer. Martin Crosbie blieb verschwunden, und auch von der Huldra fand sich keine Spur. Nichts deutete darauf hin, dass sie je dort gewohnt hatten, fast so, als wäre das Ganze wirklich nur ein Traum gewesen, ein Traum des Roten Königs, der Krähe oder von sonst irgendwem.
Es war aber kein Traum, es war eine Geschichte – und das ist etwas anderes. Eine Geschichte steht für alles ein, was sich nicht erklären lässt, und auch wenn es viele Geschichten gibt, gibt es doch eigentlich nur eine; wir können den Unterschied erkennen, da die vielen Geschichten einen Anfang und ein Ende haben, die eine Geschichte aber funktioniert nicht so. Ryvold hat immer behauptet, Geschichten handelten im Grunde von Zeit. Sie erzählen uns, dass einmal etwas passierte an einem Ort, den es gab, ehe wir geboren wurden – und wir hören gern zu, da wir wissen, dass diese Geschichte bereits vorüber ist. Wir wissen, wir leben glücklich bis ans Ende unserer Tage, was bedeutet, dass jetzt nichts mehr geschieht – und ebendies
Weitere Kostenlose Bücher