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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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Sorgen machte, sondern weil sie das Grausame und Tragische in seinem Gesicht sah und davon fasziniert war.
    Allerdings war es nicht der Appell in Mutters Augen, der mich die nächsten Tage in meinem Zimmer hielt. Angst war es auch nicht. Zumindest nicht die Angst vor der Huldra. Nein, es war eine bittere, ungebührliche Neugierde. Ich wollte sehen, wie lange Mutter die Verstellung aufrechterhielt. Ich wollte sehen, was geschah, wenn sie mit dem Bild fertig war und Maia ohne viel Federlesens fortschickte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie genau das tun würde; und auch wenn ich mir Sorgen um sie machte, weigerte sich etwas in mir, diese Sorgen ernst zu nehmen. Ich wollte sehen, was passierte. Ich wollte sehen, wie Maia mit der unweigerlich drohenden Zurückweisung fertig wurde und wie Mutter auf ihre Reaktion reagierte. Und ja, eine hässliche, trotzige Seite in mir dachte, die beiden hätten einander verdient. Eigentlich war es ihnen doch von Anfang an bestimmt gewesen, einander zu begegnen. Es war Teil der Geschichte. Ich liebte Mutter deswegen nicht weniger – ganz im Gegenteil –, aber ich wollte sehen, was passierte.
    Also wartete ich. Ich wartete noch zwei Tage, dann wusste ich, dass sie die Arbeit am Bild abgeschlossen hatte. Ich konnte hören, wie sie im Atelier aufräumte, wie sie die kleinen, praktischen Dinge erledigte, um die sie sich stets kümmerte, wenn sie mit einem Werk fertig war – und das verriet mir, dass sie für Maia keine weitere Verwendung hatte. Ich stand auf, zog mich rasch an und eilte nach unten. Ich hütete mich, Mutter in diesem Stadium zu stören; außerdem hatte das, was ich wollte, nichts mit ihr zu tun. Es ging ums Haus. Jedermann hält es für Mutters Haus, und alle, ich eingeschlossen, sehen, wie kunstvoll es von ihr gestaltet wurde, wie sie es zur äußeren Schale ihrer inneren Existenz gemacht hat, wie sie perfekt die sorgsamen Illusionen des Gartens und des unteren Stockwerks erhält, die so viel über ihr Geschick als Designerin aussagen und so wenig über ihr wahres Selbst, doch vergessen sie – vergessen wir alle –, dass dies auch mein Haus ist. Es ist mein Zuhause, trotzdem hatte Mutter in jenen wenigen Tagen zugelassen, dass es von einer aus Kyrres alten Geschichten entsprungenen Gestalt verseucht wurde. Nun aber war es an der Zeit, das zurückzufordern, was mir gehörte – vielmehr meinen Anteil an einem Ort zurückzufordern, den ich bis dahin nie vollständig für mich beansprucht hatte. Ich wollte mein Zuhause zurück, und als ich nach unten lief, von Zimmer zu Zimmer wanderte und wie ein Hund schnupperte, als spürte ich den übrig gebliebenen Anzeichen der Anwesenheit der Huldra nach, war ich so sorglos zu glauben, nur weil sich niemand in Küche, Esszimmer und unterem Atelier aufhielt, sei mein Platz in der Welt leicht zu retten. Doch ihr süßer, rauchiger Duft hing in der Luft und führte mich über den Flur durch die offene Tür hinaus in den Garten. Die Sonne schien, das weiß ich noch, und es war für die Jahreszeit sehr warm, eher wie zu Anfang, nicht wie zu Ende des Sommers; der Geruch der Huldra kam mir hier süßer und zugleich stärker vor, ein Geruch nach Ahornsirup mit etwas Staub und Lanolin, zudem ein Hauch von etwas anderem: eine Spur Milch. Oder war es die kränkliche Sauberkeit jener reinweißen Fäden, die sich über faulende Blätter spinnen und im Birkenwald neue, missgestaltete Formen hervorbringen? Was es auch war, ich hätte die Warnung erkennen müssen, ich aber folgte dem Geruch bis nach draußen, bis zur Huldra.
    Sie saß auf dem breiten Fels mitten im Steingarten und wirkte völlig entspannt; das Gesicht ruhig, die Augen halb geschlossen, genoss sie die Sonne, als hätte sie ihr Leben lang hier gewohnt, die zweite Tochter, die Mutter nie gehabt hatte, meine gegensätzliche Schwester, heller und dunkler als ich, mit mehr Licht und auch mehr Schatten. Und doch hatte ich, als ich sie sah, zumindest einen Moment lang den Eindruck, sie täusche nur vor, sich in Mutters Garten wohlzufühlen. Die Ruhe, die scheinbare Freude an die Umgebung – es kam mir vor wie gespielt, wie inszeniert, aber für wen tat sie das? Wen versuchte sie damit zu überzeugen?
    Den Bruchteil einer Sekunde lang sah sie mich nicht, und dann, als sie mich sah, verriet das über ihr Gesicht huschende gespenstische Lächeln etwas Erwartungsvolles, die Ahnung von durchtriebenem Unfug, der mich erneut an eine widerliche, unnatürliche Schwesternschaft denken

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