In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
nicht bewusstlos, reagierte aber auch nicht, als sie mich fragte, was denn vorgefallen sei. Deshalb wusste sie nicht, dass Kyrre und das Mädchen verschwunden waren. Sie wusste nur, dass ich sehr krank war, zog mir daher meine nassen Sachen aus und trug mich die Treppe hinauf ins Bett. Ich kann mich daran nicht erinnern – ich kann mich an vieles nicht erinnern, was nach diesem Morgen geschah –, doch dies hat sie mir erzählt, als es mir wieder besser ging, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Sie sagte, ich hätte in jener Nacht hohes Fieber bekommen, und sie hätte mich nicht bewegen können, etwas zu essen. Ich zitterte und konnte lange nicht reden, aber ich trank, als sie mir Wasser brachte, was sie für ein gutes Zeichen hielt. Hin und wieder hätte ich auch geschlafen, was noch besser gewesen sei. Mutter hat schon immer an die heilende Kraft des Schlafes geglaubt. Es gab Zeiten, da schlief sie vierundzwanzig Stunden lang, auch sechsunddreißig Stunden und länger. Träume heilen uns, sagt sie. Ohne Träume wären wir alle verrückt. In Krisenmomenten, als es wirklich schlecht um mich stand, sagte sie, habe sie bei mir gesessen, während ich schlief, und sie habe gesehen, wie meine Augen sich bewegten, was bedeutete, dass ich träumte, und auch wenn ich im Schlaf um mich schlug und manchmal aufschrie, habe sie mich schlafen lassen. Träume, sagt sie, sind die Geschichten, die wir uns erzählen, um unserer Welt einen Sinn zu geben. Der einzige Unterschied zwischen den Verrückten und den geistig Gesunden sei, dass die Verrückten nicht gut genug träumten.
Zweifellos hat sie recht, und was immer auch sonst nicht stimmen mag, sie hat mich allein und ohne fremde Hilfe durch den Irrsinn der nächsten Zeit gebracht, nur gibt es bis auf den heutigen Tag keine Geschichte, die mir verständlich machen kann, was ich damals gesehen habe. Ich kann mir zwar das eine oder andere über die Vorfälle jenes Sommers erzählen, ich kann auf übliche Weise gewisse Aussagen über das treffen, was meines Wissens richtig ist, aber das sind bloße Tatsachen, und auch wenn jede Geschichte Faktisches enthält oder dies doch zumindest behauptet, ist das, was ich mir selbst an faktisch Wahrem erzählen kann, vollkommen belanglos. Ich kann sagen, dass Martin Crosbies Leiche nie gefunden wurde; ich kann sagen, dass, als sein Wagen verschwand, alle angenommen haben, er habe die Insel verlassen – alle jedenfalls, die es überhaupt interessierte. Ich kann sagen, dass Ryvold nie nach Kvaløya zurückgekehrt ist, aber geschrieben hat, und später, irgendwann im darauffolgenden Frühjahr, wenn ich mich recht erinnere, hat er Mutter das Manuskript eines Buches geschickt, das später nicht nur in Norwegen, sondern auch in mehreren anderen Ländern veröffentlicht wurde. Ein Buch über die alten Geschichten, natürlich, allerdings enthält es auch eine Reihe persönlicher Erinnerungen und Überlegungen, und ich habe es sorgfältig gelesen, um herauszufinden was es über sein Denken verraten mochte, doch obwohl er darin Fragen der Kunst und die Narziss-Geschichte streift und ein langer Abschnitt von seiner Zeit im Norden handelt, hat er Mutter nicht einmal erwähnt. Damals überraschte mich das, doch war ich auch froh, dass er Mutter aus seiner Geschichte herausgehalten hat. Es gibt schon zu viele Geschichten über sie, und keine davon stimmt – nicht einmal die von Frank Verne.
Nachdem Ryvold gegangen war, blieben die Freier nach und nach fort – und Mutter wurde nun doch noch zu jener Einsiedlerin, die sie in den Geschichten schon immer gewesen ist. Sie malt noch, und der Mann von Fløgstadt fährt weiterhin mit ihren Bildern übers Land, macht unterwegs bei seiner Schwester in Mo I Rana Rast, und obwohl ihre Bilder düsterer geworden sind – zumindest in den Augen mancher Kritiker, während ich darin das Gegenteil von Dunkelheit sehe –, verkaufen sie sich noch immer gut. Inzwischen habe ich auch entschieden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Es hat eine Weile gedauert, nur wusste ich nach diesem Sommer, dass ich an diesen Ort gehöre; und ich hege auch nicht die Absicht, von hier fortzugehen oder mich je von der Arbeit ablenken zu lassen, die ich mir gewählt habe. Ich freue mich außerdem, sagen zu können, dass Kate Thompson mir nie wieder Geschenke geschickt hat, auch wenn ich gestehen muss, dass ich mich manchmal ertappe, wie ich an sie denke. Anfangs fand ich es seltsam, dass ich an Kate dachte und nicht an Arild
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