In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Nichts, bar jeder Menschlichkeit. Ihr Handy klingelte, aber als sie sah, dass es Thompson war, schaltete sie es aus. Sich jetzt seine Vorwürfe anzuhören war sinnlos, sie verabscheute sich bereits mehr als genug.
Die Stände wurden geschlossen, es waren nur wenig Menschen unterwegs, und auf dem Pflaster lag eine dicke Schicht aus zerdrückten Kartons und faulem Gemüse. Ein paar Obdachlose durchsuchten sie im Wettstreit mit den Tauben auf der Suche nach essbarem Abfall und nach dem trockensten Karton als Schlafunterlage.
Die Spekulanten und die Armen: die Getriebenen und die Verzweifelten. Sie sah hinaus zur Gherkin, dem gurkenförmigen Wahrzeichen der Stadt, Seite an Seite mit dem East End. Das verlöschende Tageslicht wurde in den Myriaden rautenförmiger Fensterscheiben seines Panzers eingefangen. Widergespiegelte Geschichte. Die große Depression. Eine königliche Bank wurde durch Druck auf die Bürger gerettet und ihre Barone für ihr Versagen reich belohnt.
Berlins Gedanken wanderten im Gleichschritt mit ihren ruhelosen Füßen und wandten sich von der City ab.
Geld schläft nie. Ich schlafe nie.
Sie würde einfach weiter in die Nacht hineingehen, wie sie es schon so oft getan hatte, und am Ende wäre es wie zu Anfang. Das Verlangen, das sie antrieb, würde einen Weg finden.
Sie versuchte nach vorn zu blicken, in eine Zeit, in der Gina Doyles Tod ihr nicht wie ein Bleigewicht um den Hals hing und in der sie einen ständigen Vorrat an Dope hatte. Sie würde mit Dempster reden und die Dinge klären. Er würde es verstehen, er würde es in Ordnung finden. Aber ihr eigentliches Bedürfnis war der Blick zurück.
Alles hatte mit Coulthards Gemeinheit und Nestors Schwäche begonnen. Und mit ihrer dickköpfigen Suche nach Beweisen. Damit hatte es angefangen.
Ihr Drang zurückzugehen, nach dem Urgrund der Dinge zu suchen, dem Ursprung von Zorn, Verzweiflung und Mord, entsprang derselben Quelle wie ihre Sucht. Dieses Bedürfnis gab ihren taumelnden Beinen den Willen weiterzugehen.
Ein Bettler berührte ihren Arm, und erschreckt hob sie eine Faust, um ihn abzuwehren. Er duckte sich, anscheinend willens, den Schlag hinzunehmen – ein ausgemergelter Alter, seine Augen perlweiß vom Star. Es hatte schon vor Generationen begonnen.
Sie hatte zurückgeschaut und einen flüchtigen Blick auf ihre eigene Geschichte erhascht, ein loser Faden, der sie mit den Doyles verband. Es war ein verhedderter Faden. Und es gab nur einen Menschen, der ihn entwirren konnte.
80
Delroy schloss die Tür hinter den Polizeibeamten. Seine Freundin Linda tauchte aus der Küche auf, alles andere als glücklich.
»Was wollten sie?«, fragte sie.
»Sie suchen nach Berlin.«
»Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?«
Delroy runzelte die Stirn.
Linda dachte, dass Berlin immer Schwierigkeiten verursachte und seine vielversprechende Karriere noch torpedieren würde. Delroy hatte ihr nichts von der bevorstehenden Auflösung des Teams erzählt, was seiner Karriere ohnehin einen Schlag versetzen würde.
»Nichts. Der Kriminalbeamte, der den Mord an Gina Doyle untersucht, sucht nach ihr. Das ist alles. Anscheinend ist sie von der Bildfläche verschwunden.«
»Sie ist schon vor Jahren verschwunden, wenn du mich fragst«, knurrte Linda.
Er hatte ihr noch nicht mal die Hälfte erzählt. Die Polizisten hatten ihm gesagt, dass sich der DCI auf dem Kriegspfad befände und sie zur Fahndung ausgeschrieben hätte, weil er Berlin wegen eines Mordes im Krankenhaus vernehmen wollte. Rund um diese Frau stapelten sich die Leichen.
81
»Bleiben Sie hier«, sagte Doyle zu Coulthard, als er mit dem Benz vor der Garage anhielt. »Die Jungs bringen Sie gleich nach Hause.«
Coulthard nickte kaum wahrnehmbar. Nur große Klappe und nix in der Hose, dachte Doyle beim Aussteigen. Die Tür der Garage ging auf, und die Jungs drückten sich in der Öffnung herum, sie zögerten offensichtlich, die Wärme des alten Paraffinofens in der Ecke zu verlassen.
Doyle marschierte an ihnen vorbei, und sie folgten ihm nach drinnen.
»Lasst die Tür auf«, sagte er. Er wollte Coulthard im Auge behalten. »Gab es Ärger mit dem Mädchen?«
»Nee. Sie hat ihre Koffer gepackt, noch bevor wir aus dem Haus waren.«
»Gut. Ich möchte, dass ihr ihn runter zum Schleusenbecken bringt und dafür sorgt, dass er nicht mehr zurückkommt.«
Die Jungs sahen einander an.
»Was ist?«, blaffte Doyle.
»Na ja, das ist schon was anderes, hä?«, sagte der eine. »Ein paar Beine brechen
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