In kalter Absicht
Dissertationen in zwei Haufen sortiert hatte: einen für muß gelesen werden, einen für hat Zeit. Der zweite Haufen war minimal. Der erste ragte vom Boden fast bis zu Kniehöhe auf. Unbeholfen griff er zu dem Heft, das durch Zufall ganz oben lag, und schenkte sich eine Tasse schießpulverstarken Kaffee ein.
Excitation-contraction coupling in normal and failing cardiomyocytes.
Diese Dissertation stammte aus dem Januar 1999 und lag schon lange bei ihm herum. Der Doktorand war ihm unbekannt. Er konnte nicht entscheiden, ob der Inhalt der Arbeit wichtig war, ohne sie sich genauer anzusehen. Er spielte mit dem Gedanken, im Stapel weiter nach unten zu gehen. Dann riß er sich zusammen und fing an zu lesen.
Dem Pathologen zitterten die Hände. Er legte die Arbeit weg. Das Ganze war so erschreckend und zugleich so einleuchtend, daß er es im wahrsten Sinne des Wortes mit der Angst zu tun bekam. Die Antwort lag nicht in der Abhandlung. Die hatte ihm bloß als Denkanstoß gedient. Er spürte, wie sein Adrenalinspiegel stieg; sein Puls beschleunigte sich, sein Atem flachte ab. Er mußte einen Pharmazeuten sprechen. Das Telefonbuch fiel zu Boden, als er nach der Nummer der besten Freundin seiner Frau suchte; der Besitzerin einer in Tåsen gelegenen Apotheke. Sie war zu Hause. Das Gespräch dauerte zehn Minuten. Der Pathologe vergaß, sich für die Hilfe zu bedanken.
Yngvar Stubø hatte seine Karte hinterlassen. Der Pathologe suchte zwischen Briefbögen und Notizzetteln, Stiftbehältern und Berichten, die Karte war spurlos verschwunden. Endlich fiel ihm ein, daß er sie an seiner Pinnwand befestigt hatte. Er mußte die Mobiltelefonnummer zweimal wählen. Seine Finger waren wie betäubt.
»Stubø«, sagte eine schroffe Stimme am anderen Ende der Leitung.
Der Pathologe brauchte eine Minute, um zu erklären, warum er anrief. Dann herrschte Schweigen.
»Hallo?«
»Ich bin noch dran«, sagte Stubo. »Um welchen Stoff geht es?«
»Kalium.«
»Was ist Kalium?«
»Ein Grundstoff, der sich in unseren Zellen befindet.«
»Das begreife ich ganz einfach nicht. Wie …«
Der Pathologe merkte, daß er noch immer zitterte. Er umklammerte den Telefonhörer und änderte seinen Griff, um sich zu entspannen.
»Um es so einfach zu sagen, daß es fast nicht mehr stimmt«, setzte er an und räusperte sich. »In den menschlichen Zellen gibt es einen gewissen Kaliumspiegel. Der ist für uns lebenswichtig. Wenn wir sterben, dann können wir das so ausdrücken, daß die Zellen … lecken. Innerhalb von ein oder zwei Stunden steigt der Kaliumspiegel in der Flüssigkeit, die die Zellen umgibt, stark an. Das ist ein klares Anzeichen dafür, daß jemand … ganz einfach tot ist.«
Der Pathologe schwitzte, sein Hemd klebte ihm am Leib, und er versuchte, langsamer zu atmen.
»Daß der Kaliumspiegel außerhalb jeder Zelle nach dem Tod ansteigt, ist also in keiner Hinsicht aufsehenerregend. Sondern normal.«
»Aber?«
»Das Problem ist, daß dieser Spiegel auch ansteigt, wenn jemand dem Körper Kalium zuführt. Einem lebenden Körper, meine ich. Und dann … dann stirbt man. Ein erhöhter Kaliumspiegel führt zum Herzstillstand.«
»Aber es muß doch leicht sein, einen solchen Stoff nachzuweisen!«
Der Pathologe wurde lauter.
»Aber hörst du denn nicht zu? Wenn jemand eine Kaliuminjektion bekommt und daran stirbt, ist die Todesursache nicht nachweisbar, es sei denn, die Obduktion wird unmittelbar nach Eintritt des Todes durchgeführt. Eine Verspätung von einer Stunde oder so reicht schon aus. Danach wird der erhöhte Kaliumspiegel dem Tod an sich zugeschrieben. Die Obduktion wird gar nichts nachweisen, abgesehen davon, daß der Leichnam eben ein Leichnam ist und daß es keine erkennbare Todesursache gibt.«
» Großer Gott …«
Stubø schluckte so laut, daß der Pathologe es hören konnte.
»Aber woher nimmt man dieses Gift?«
»Das ist kein Gift, zum Henker!«
Der Pathologe war noch viel lauter geworden. Als er danach wieder den Mund öffnete, war seine Stimme leise und zitterte.
»Zum einen nehmen du und ich jeden Tag Kalium zu uns. Durch unsere ganz normale Ernährung. Nicht in großen Mengen zwar, aber dennoch … Kalium wird in Packungen von einem Kilo in der Apotheke verkauft. Das heißt, verkauft wird Kaliumchlorid. Wenn das in die Blutbahn injiziert wird, dann spaltet es sich in Kalium- und Chlor-Ionen, um es weiterhin einfach auszudrücken. Kaliumchlorid muß in eine Lösung gemischt werden, die nicht zu stark ist, da sie
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