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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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komplett zu vergessen.«
    Wieder verzogen ihre Lippen sich zu etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte. Yngvar starrte ein großes Bild an, das mitten auf dem Couchtisch stand, ein Foto von Sarah in einem silbernen Rahmen. Daneben standen eine rosa Stummelkerze und eine kleine Rose in einer dünnen Vase.
    »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte Lena. »Ich habe solche Angst davor, diese Kerze auszumachen. Sie soll die ganze Zeit brennen. Für immer. So, als sei das alles doch nicht ganz wahr, solange die Kerze noch brennt.«
    Yngvar nickte fast unmerklich.
    »Ich weiß«, sagte er ruhig. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«
    »Nein«, wehrte sie heftig ab. »Sie wissen nicht, wie mir zumute ist.«
    Hinter ihrem aufgelösten Gesicht, hinter ihren plötzlich wütenden Zügen sah er, daß Lena Baardsen es schaffen würde. Ihr selbst war das allerdings noch nicht klar. Der Tod ihrer Tochter war unfaßbar und würde das lange bleiben. Lena Baardsen klammerte sich an eine Trauer, die immer und überall vorhanden war. Ihr Dasein lag jenseits aller Realitäten, weil die Wirklichkeit derzeit unerträglich war.
    Es würde noch schlimmer werden. Irgendwann, wenn die Zeit gekommen war, würde sie wieder leben können. Dann würde die eigentliche Trauer sich einstellen. Die, die niemals vorübergeht, die mit niemandem geteilt werden kann. Die sie lachen und leben lassen würde, die es ihr vielleicht sogar ermöglichen würde, noch weitere Kinder zu bekommen. Aber die sie niemals loslassen würde.
    »Doch«, sagte Yngvar. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«
    Es war zu warm. Er erhob sich und öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon.
    »War er es?«
    Yngvar drehte sich halbwegs um. Ihre Stimme klang erschöpft, schien fast nicht mehr vorhanden zu sein. Er sollte besser gehen. Lena Baardsen würde es schaffen. Er hatte die Antworten erhalten, die er brauchte.
    »Sie wissen noch genau, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben«, sagte er.
    »Ich bin abgehauen«, sagte Lena. »Ich bin nach Dänemark gefahren. Habe das Zimmer gekündigt, während er bei der Arbeit war, habe alle meine Habseligkeiten zu meiner Mutter gebracht, bin für unbestimmte Zeit verreist. Er hat meiner Mutter einige Wochen lang die Hölle heiß gemacht. Dann hat er aufgegeben. Hat er wirklich … hat er Sarah umgebracht?«
    Yngvar ballte die Fäuste so hart, daß die Fingernägel sich in seine Handfläche bohrten.
    »Das weiß ich nicht«, sagte er kurz.
    Er ließ die Balkontür offenstehen und ging zur Diele. Mitten im Zimmer blieb er stehen und sah sich das Bild von Sarah noch einmal an. Die Rose war schon halb verwelkt, sie ließ den Kopf hängen und brauchte frisches Wasser.
    Als er sein Auto erreicht hatte, drehte er sich um und zählte sich zum sechsten Stock hoch. Lena Baardsen stand auf dem Balkon, sie hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt. Sie winkte nicht. Er senkte den Kopf und stieg in den Wagen. Das Radio schaltete sich ein, als er den Zündschlüssel umdrehte. Er hatte Høvik schon hinter sich, als ihm aufging, daß die Sendung von den Verwüstungen handelte, die der Schwarze Tod in Norwegen angerichtet hatte.
    Am allerliebsten hätte er ihr eine heruntergehauen. Turid Sande Oksøy war keine gute Lügnerin. Vermutlich verbarg sie deshalb sorgfältig ihr Gesicht vor ihrem Ehemann, als sie wiederholte:
    »Ich habe noch nie von einem Karsten Åsli gehört. Noch nie.«
    Das Reihenhaus in Bærum war geprägt von einer anderen Sorte Trauer als die kleine Wohnung in Torshov. Hier gab es noch lebende Kinder. Auf dem Boden lag Spielzeug umher, und es roch nach Essen. Turid und Lasse Oksøy waren wenig Schlaf und viele Tränen anzusehen, aber in ihrem Haus war das Leben in gewisser Hinsicht weitergegangen. Das mußte so sein, die Zwillinge waren ja erst zwei Jahre alt. Turid Oksøy hatte versucht, sich zu schminken; Yngvar hatte sie von unterwegs angerufen und gefragt, ob er so spät noch bei ihnen vorbeischauen dürfe. Die Wimperntusche lagerte sich bereits als schwarze Kruste in ihren Augenwinkeln ab. Der Lippenstift ließ den Mund in ihrem weißen Gesicht zu groß aussehen. Ihr Zeigefinger rieb zerstreut an einem Kratzer über ihrer Nasenwurzel. Der Kratzer fing an zu bluten, und sie brach in Tränen aus.
    »Ehrenwort«, schluchzte sie. »Sie müssen mir glauben, ich habe in meinem Leben noch keinen Karsten gekannt.«
    Yngvar hätte unter vier Augen mit ihr sprechen müssen.
    Es war ein gewaltiger Patzer gewesen, sie zu Hause aufzusuchen. Lasse,

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