In kalter Absicht
eines unbekannten Verbrechers baut darauf auf, daß die Handlungen des Betreffenden bestimmte Charakteristika aufweisen und diese bekannt sind. Das ist wie bei diesen Bildern, bei denen numerierte Punkte miteinander verbunden werden sollen. Sie ziehen mit dem Bleistift Striche von einem Punkt zum nächsten, bis Sie eine konkrete Zeichnung haben. Zwei Punkte helfen Ihnen da nicht weiter. Sie brauchen viele. Und in der Hinsicht haben Sie natürlich recht: Wir können nur von Herzen hoffen, daß es nicht dazu kommt. Daß wir nicht noch weitere Punkte erhalten, meine ich.«
»Woher wissen Sie das?«
»Warum bestehen Sie darauf, daß es sich um ein und denselben Täter handelt und nicht um zwei?«
»Ich halte es nicht für einen Zufall, daß Sie Psychologie und Jura studiert haben. Das ist eine ungewöhnliche Kombination. Sie müssen einen Plan verfolgt haben. Ein Ziel.«
»Es war aber Zufall. Nur die Folge von jugendlicher Unentschlossenheit. Außerdem wollte ich in die USA . Und wissen Sie …«
Sie ertappte sich dabei, daß sie auf einer Haarsträhne kaute. So diskret wie möglich schob sie die nasse Strähne hinters Ohr und rückte ihre Brille gerade.
»Ich glaube, Sie irren sich. Emilie Selbu und der kleine Kim sind nicht von demselben Mann entführt worden.«
»Oder von derselben Frau.«
»Oder von derselben Frau«, wiederholte sie resigniert. »Aber jetzt muß ich wirklich, so unhöflich das auch sein mag, ich muß Sie bitten … Ich muß heute noch allerlei erledigen, ich werde nämlich … Tut mir leid.«
Wieder empfand sie diesen Druck auf der Lunge; es war ihr unmöglich, den Mann auf dem Sofa anzusehen. Er erhob sich bemerkenswert schnell aus seiner unbequemen Position.
»Wenn es noch einmal passiert«, sagte er und schob die Bilder zusammen. »Wenn noch ein Kind verschwindet. Werden Sie mir dann helfen?«
Cruella deVille stieß im Arbeitszimmer einen lauten Schrei aus. Kristiane kreischte vor Freude.
»Das weiß ich nicht«, sagte Inger Johanne Vik. »Mal sehen.«
Da Samstag war und alles wie geschmiert lief, gönnte er sich ein Glas Wein. Wenn er sich das genauer überlegte, dann trank er jetzt zum ersten Mal seit Monaten wieder Alkohol. Normalerweise hatte er Angst vor der Wirkung. Nach einem Glas oder zwei wurde er schläfrig. Wenn das dritte zur Hälfte geleert war, wurde er ärgerlich. Auf dem Grunde des vierten Glases lauerte die Wut.
Nur ein Glas. Draußen war es noch hell, und er hob das Glas gegen das Licht.
Emilie war seltsam. Undankbar. Obwohl er die Kleine am Leben erhalten wollte, so lange das möglich war, gab es doch irgendwo eine Grenze.
Er trank. Es war ein dunkler Geschmack, der Wein schmeckte nach Keller.
Er mußte über seine eigene Sentimentalität lächeln. Er war einfach zu sensibel. Zu gutmütig. Warum sollte ausgerechnet Emilie leben dürfen? Wozu sollte das gut sein? Womit hatte die Kleine das denn verdient? Sie bekam etwas zu essen, und zwar gutes Essen und oft. Sauberes Wasser kam aus dem Hahn. Sogar eine Barbiepuppe hatte er ihr gekauft, aber das wußte sie anscheinend gar nicht richtig zu schätzen.
Glücklicherweise jammerte sie jetzt nicht mehr. Anfangs, und vor allem, nachdem Kim verschwunden war, hatte sie schon losgeweint, wenn er nur unten die Tür öffnete. Sie schien auch keine Luft zu bekommen, was Unsinn war. Er hatte schon vor langer Zeit eine richtige Lüftungsanlage installiert, er wollte die Kinder schließlich nicht ersticken lassen. Jetzt war sie ruhiger. Weinte jedenfalls nicht mehr.
Die Entscheidung, Emilie am Leben zu lassen, hatte sich ganz von selbst ergeben. Er hatte es nicht von Anfang an so vorgehabt, das nicht. Sie hatte etwas Besonderes, auch wenn sie das natürlich nicht begriff. Er wollte sehen, wie lange das vorhielt. Sie sollte sich in acht nehmen. Er war sentimental, aber auch für ihn gab es irgendwo eine Grenze.
Bald würde sie Gesellschaft bekommen.
Er stellte sein Glas weg und sah die acht Jahre alte Sarah Baardsen vor sich. Er hatte sich ihre Züge eingeprägt, sie auswendig gelernt, ihr Gesicht eingeübt, bis er sie jederzeit und überall vor sich sehen konnte. Fotos hatte er nicht. Fotos konnten in falsche Hände geraten. Er hatte sie auf dem Schulhof studiert, auf dem Weg zur Oma, im Bus. Einmal hatte er während einer ganzen Kinovorstellung neben ihr gesessen. Er wußte, wie ihre Haare rochen. Süß und warm.
Er steckte den Korken in die Flasche und stellte sie in eins der fast leeren Regale in der Küche. Als er aus
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