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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Mann gemacht. Er sah ziemlich gut aus, war aber nicht sehr groß. Vielleicht hatte er einen Bart. Die Götter mochten wissen, ob er sie überhaupt empfangen würde. In die USA zu reisen, fast Hals über Kopf, ohne Verabredung, ohne andere konkrete Informationen als eine Adresse in Harwichport und eine alte Geschichte über einen Mann, der wegen eines Verbrechens verurteilt worden war, das er vermutlich nicht begangen hatte; das alles war dermaßen impulsiv und sah ihr so wenig ähnlich, daß sie lächelte, als sie im Busfenster ihr Spiegelbild entdeckte. Sie war in den USA . In gewisser Hinsicht war sie nach Hause gekommen.
    Sie schlief schon, noch ehe der Ted-Williams-Tunnel hinter ihnen lag.
    Ihr letzter Gedanke galt Yngvar Stubø.

18
    Inger Johanne Viks Zeitgefühl war vollständig aus den Fugen geraten, als sie am Dienstag morgen erwachte.
    Am Vorabend hatte sie am Barnstable Municipal Airport den Wagen abgeholt. Der Flugplatz bestand nur aus zwei schmalen Startbahnen neben einem niedrigen, langgestreckten Flughafengebäude. Die Frau hinter dem Mietwagenschalter hatte ihr die Schlüssel gegeben und dabei verlegen gegähnt. Es war noch immer erst zwei Stunden vor Mitternacht. Obwohl sie zu dem vorbestellten Zimmer in Harwichport nur eine halbe Stunde gebraucht hätte, wollte sie kein Risiko eingehen. Sie fuhr zu einem Motel in Hyannisport, das nur fünf Minuten vom Flugplatz entfernt lag. Nach einer Dusche ging sie hinaus in die abendliche Dunkelheit.
    Über den Kaianlagen hing eine Vorahnung von Sommer. Halbwüchsige Jungen hatten sich einen ereignislosen Winter hindurch gelangweilt; jetzt lachten und johlten sie in der Nacht und warteten darauf, daß die Stadt explodierte. Auch Kinder von nur zehn Jahren flohen vor ihren Müttern und dem Zubettgehen und jagten auf ihren Fahrrädern im Zickzack zwischen Dückdalben und alten Tonnen umher. Der Memorial Day war nur noch wenige Tage entfernt. Im Laufe eines einzigen Wochenendes würde sich die Bevölkerung von Cape Cod vervielfachen und diese Größe beibehalten, bis der September den Labor Day und den Beginn einer weiteren öden Wintersaison brachte.
    Inger Johanne tastete nach ihrer Armbanduhr. Die war auf den Boden gefallen.
    Es war erst kurz nach sechs Uhr morgens. Sie hatte fünf Stunden geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich ausgeruht. Sie stand auf und zog ein viel zu weites T -Shirt an, das sie sonst als Nachthemd nutzte. Die Klimaanlage seufzte erschöpft und verstummte dann plötzlich. Im Zimmer war es bestimmt fünfundzwanzig Grad warm. Das Morgenlicht fiel herein, als sie die Vorhänge öffnete. Sie schaute aus zusammengekniffenen Augen nach Südwesten. Die Schnellfähre nach Martha’s Vineyard lag frisch geputzt und weiß am Anleger; der Wind blies seewärts und straffte die Trossen zwischen Pier und Boot. Hinter der Fähre, im Schutz eines Wäldchens, stand das riesige graue Kennedy-Denkmal. Sie hatte es am Vorabend besucht, hatte sich einfach auf eine Bank gesetzt und aufs Meer hinausgeschaut. In der Luft lag ein schwerer Duft von Frühsommernacht, salzig und süß. Das Denkmal stand hinter ihr, eine massive Steinmauer mit einem nichtssagenden Kupferrelief in der Mitte. Ein ausdrucksloser toter Präsident im Profil, wie auf einer Münze – ein König auf einem riesigen Geldstück.
    »Der König von Amerika«, murmelte Inger Johanne, schaltete ihr Notebook an und loggte sich ins Internet ein.
    Nur eine Mail war die Telefoneinheiten wert; eine Zeichnung von Kristiane. Drei grüne Figuren, die im Kreis standen. Kristiane, Mama und Papa. Die Hände, bei denen sie sich hielten, waren riesig, und die Finger verflochten sich miteinander wie die Wurzeln eines Mangrovenbaums. In der Mitte des Kreises stand ein vielzahniges Wesen. Inger Johanne begriff zuerst nicht, was das sein sollte. Sie las Isaks Begleittext.
    »Er hat dem Kind einen Hund gekauft«, stöhnte sie und loggte sich ganz schnell aus.
    Als sie um kurz nach neun in ihr Auto stieg, fühlte sie sich resigniert. Sie war seit einem knappen Tag unterwegs, und schon hatte Isak einen Hund gekauft. Kristiane würde darauf bestehen, das Tier auch während der Wochen, die sie bei Inger Johanne verbrachte, bei sich zu haben. Inger Johanne wollte keinen Hund, ganz und gar nicht.
    Isak hätte sie wenigstens fragen können.
    Ihr Ärger hatte nicht nennenswert nachgelassen. Sie fuhr über die Route 28 die Küste entlang. Diese Straße schlängelte sich von einer Kleinstadt zur anderen, und ab und zu war hinter

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