In kalter Absicht
Yachthäfen und Flußmündungen der Nantucket Sound zu sehen. Die Sonne brannte in ihren Augen. Sie hielt vor einem knallbunten Andenkenladen, um sich eine billige Sonnenbrille zu kaufen. Ihre eigene mit den Gläsern in ihrer Sehstärke hatte sie in Norwegen vergessen. Sie hatte die Wahl, entweder mit Sonnenbrille ohne optische Gläser wenig zu sehen oder ohne Sonnenbrille im scharfen Licht so gut wie blind zu sein. Der Verkäufer wollte ihr auch einen Cowboyhut aufschwatzen – als ob es in einer Meile Umkreis von Yarmouth, Massachusetts, jemals auch nur einen einzigen Cowboy gegeben hätte. Am Ende gab sie sich geschlagen. Dreißig Dollar gleich in den Müll, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hoffte, daß er nicht zusah, wie sie den Kopfputz in einen grünen Eimer stopfte. Dem Mann hatte das rechte Bein gefehlt, 1972 war er vermutlich ein einfacher Soldat von neunzehn Jahren gewesen.
Den Mid-Cape Highway zu nehmen wäre in jeder Hinsicht sinnvoller gewesen, eine vierspurige Schnellstraße, die die Halbinsel in Längsrichtung durchquerte. Daß sie sich dennoch für die Küstenstraße entschied, ließ in ihr den Verdacht aufkommen, daß sie Zeit schinden wollte. Am Vortag hatte sie ihre eigene Impulsivität noch belächelt. Aber jetzt fand sie das nicht mehr komisch.
Etwas schien mit der Schaltung nicht zu stimmen.
Was sollte sie sagen?
Isak konnte sich geirrt haben. Er hatte die Hand aufs Herz gelegt und die Augen weit aufgerissen, als sie Garantien verlangt hatte. Es konnte doch mehrere Aksel Seiers geben. Wenn auch nicht sehr viele, so doch einige. Isak konnte sich geirrt haben. Der Aksel Seier aus Harwichport hatte vielleicht niemals in Oslo gelebt. Vielleicht hatte er auch nie im Gefängnis gesessen. Vielleicht hatte er doch im Gefängnis gesessen, mochte aber nicht daran erinnert werden. Er konnte eine Familie haben. Frau, Kinder, Enkelkinder; die allesamt keine Ahnung von der Knastvergangenheit des Familienoberhauptes hatten. Es wäre nicht richtig, das alles wieder aufzuwühlen. Es wäre nicht richtig Aksel Seier gegenüber. Am Vortag hatte sie über ihre eigene Impulsivität gelächelt. Jetzt aber wußte sie, daß es bei dieser Reise in die USA nicht nur darum ging, eine Wahrheit zu suchen, sondern daß sie auch vor etwas davonlief. Nicht vor etwas Wichtigem, fügte sie in Gedanken rasch hinzu. Hier konnte trotz allem nicht von einer Flucht die Rede sein. In Amerika war sie sich selbst am nächsten, und deshalb war sie hergekommen. Sie wußte nur nicht so recht, wovon sie eigentlich eine Pause brauchte.
Ehe sie Dennisport erreichte, eine satte amerikanische Meile von der Adresse entfernt, die hinter Kristianes Bild in ihrer Brieftasche steckte, beschloß sie umzukehren. Sie könnte die ganze Reise als Schuß in den Ofen bezeichnen. Alvhild Sofienberg würde das verstehen. Inger Johanne konnte nicht mehr tun. Sie konnte auch ohne Aksel Seier weiterforschen. Sein Fall war für sie nicht unverzichtbar. Sie hatte auch sonst genug Material, Fälle, bei denen die Täter eine U -Bahnfahrt oder eine kurze Flugreise nach Tromsø entfernt wohnten.
Die Gangschaltung hustete böse. Sie fuhr weiter.
Vielleicht sollte sie sich sein Haus ansehen. Sie brauchte ihn ja nicht anzusprechen. Wo sie schon so weit gereist war, wäre es doch nicht schlecht, sich zumindest einen Eindruck davon zu verschaffen, wie Aksel Seiers Leben aussah. Ein Haus mit Garten und vielleicht einem Auto davor würden eine Geschichte erzählen, die es sich nach einer so langen Reise anzuhören lohnte.
Aksel Seier wohnte in der Ocean Avenue Nummer 1.
Das Haus war leicht zu finden. Es war klein. Wie alle Häuser in der Nachbarschaft war es mit Zedernholz verkleidet, altersgrau, verwittert und typisch für die Gegend. Die Fensterläden waren blau. Auf dem Dach drehte ein Wetterhahn sich widerwillig mit dem Wind. Ein untersetzter Mann mühte sich an der Ostwand mit einer Leiter ab. Es war noch zu früh zum Mittagessen. Inger Johanne merkte, daß sie trotzdem Hunger hatte.
Aksel Seier brauchte eine neue Leiter. Er wollte aufs Dach klettern. Der alten fehlten drei Sprossen, und sie knackte bedrohlich. Aber er mußte nach oben. Der Wetterhahn wollte nicht mehr. Aksel wurde manchmal nachts vom Wind geweckt, der dem halsstarrigen Vogel zusetzte; und der schrie wütend, wenn der Wind von Südosten wehte.
» Hi, Aksel! Pretty thing you’ve got there!«
Ein jüngerer Mann in einem karierten Flanellhemd lehnte sich über den Zaun und lachte.
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