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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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sich Ihren Fall näher angesehen haben … es gibt einen Menschen … sie ist … könnten wir uns setzen?«
    Er stand wie erstarrt vor ihr. Der eine Arm hing kraftlos an seiner Seite, sie konnte mit Mühe eine Pendelbewegung wahrnehmen, im Rhythmus seines Herzens, vor und zurück, vor und zurück. Seine linke Hand war schlaff, sie umschloß die Bierdose. Noch immer versteckte er sich hinter seinen fettigen Stirnfransen, seine Augen waren klein, und sie sah darin den Funken eines Gefühls, das sie nicht deuten konnte.
    »Ich glaube, wir sollten uns setzen, Herr Seier.«
    Endlich stieß er ein Schnauben aus. Es klang unfreiwillig und gepreßt, als habe er schlucken wollen, dann aber etwas in den falschen Hals bekommen. Zuerst glaubte sie, er kämpfe mit den Tränen. Dann schnaubte er noch einmal, es war fast schon ein Husten, er zitterte am ganzen Leib und stellte seine Bierdose weg.
    »Herr Seier«, wiederholte er, seine Stimme klang rauh. »So hat mich schon seit vielen Jahren niemand mehr genannt. Wer sind Sie?«
    »Wissen Sie was?«
    Sie trat vorsichtig von der Schlachtszenerie auf dem Fußboden zurück.
    »Ich würde Sie gern in ein Restaurant einladen. Dann könnten wir eine Kleinigkeit essen, und ich könnte Ihnen erklären, warum ich gekommen bin. Ich glaube, ich habe Ihnen viel zu erzählen.«
    Gelogen, dachte sie. Ich habe dir fast gar nichts zu erzählen. Ich habe tausend Fragen, deren Antworten für mich wichtig sind. Für mich und für eine alte Frau, die sich am Leben hält, weil sie auf diese Antworten wartet. Ich führe dich an der Nase herum. Ich streue dir Sand in die Augen. Ich nutze dich aus.
    » Wo kann man denn in dieser Stadt eine anständige Mahlzeit bekommen?« fragte sie jedoch leichthin.
    »Kommen Sie«, sagte er und ging zur Tür.
    Als sie ihm folgte, trat sie aus Versehen auf einen General. Der wurde ohne großen Lärm auf dem groben Boden zerdrückt. Verzweifelt hob sie den Fuß. Die Figur war pulverisiert, blaue und gelbe Farbpartikel klebten unter ihrem Schuh.
    Aksel Seier starrte zu Boden. Dann sah er sie an.
    »Glauben Sie das wirklich? Glauben Sie wirklich an meine … innocence?«
    Er wandte sich ab, sofort, ohne auf eine Antwort zu warten.

21
    Das neue Mädchen hieß Sarah. Sie war so groß wie Emilie, und dabei war sie doch ein Jahr jünger. Es war nicht leicht, sie zu trösten. Da war sie wie Emilies Papa. Als Emilies Mama gestorben war, hätte Emilie ihn so gern getröstet. Nach der Beerdigung, und als das Haus nicht mehr von Leuten wimmelte, die ihnen helfen wollten, mochte er nicht weinen, wenn sie das sehen konnte. Aber sie wußte, wie ihm zumute war. Sie hatte ihn gehört, nachts, wenn er glaubte, daß sie schlief, und sich das Kissen über den Kopf zog, damit sie ihn ganz bestimmt nicht hörte. Sie wollte ihn trösten, aber das war unmöglich, weil er ein Erwachsener war. Er war größer als sie. Es gab nichts, was sie tun oder sagen konnte. Wenn sie es doch versuchte, dann lächelte er ungeheuer herzlich, stand auf und backte Waffeln, und dabei sprachen sie darüber, wo sie die Sommerferien verbringen wollten.
    Mit Sarah war die Sache ein bißchen ähnlich. Sarah weinte und weinte, war aber irgendwie zu groß, um getröstet zu werden. Emilie hatte sich eigentlich gefreut, als Sarah gekommen war. Es war viel besser zu zweit. Vor allem war es schön, daß sie zwei Mädchen waren, und noch besser war, daß Sarah fast ebenso alt war wie sie. Mehr wußte Emilie nicht über Sarah. Sie wußte, daß sie Sarah hieß und wie alt sie war. Wenn sie versuchten, miteinander zu reden, brach Sarah jedesmal in Tränen aus. Sie nuschelte etwas über einen Bus und eine Oma. Vielleicht war die Oma Busfahrerin, und Sarah glaubte, sie werde kommen und sie retten. So wie sie selbst noch immer dachte, ab und zu, daß ihre Mama ihr rotes Kleid und ihre pflaumengroßen Diamantohrringe trug und sie nicht aus den Augen ließ.
    Sarah kapierte nicht, daß es besser war, nett zu dem Mann zu sein.
    Er brachte ihnen doch immerhin Essen und Trinken, und vor einiger Zeit hatte er auch ein Pferd für Barbie bei sich gehabt. Wenn Emilie lächelte und danke sagte und freundlich und höflich war, lächelte der Mann zurück. Er schien sich dann zu freuen und zufriedener zu sein, wenn er sie anstarrte. Sarah hatte ihn gebissen. Als sie und der Mann in das Zimmer gekommen waren, hatte sie ihre Zähne in seinen Arm geschlagen. Er hatte geheult und Sarah wütend ins Gesicht gehauen. Danach blutete es über ihrem

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