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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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dammit?«
    Aksel umklammerte seinen Hammer, dann ließ er ihn plötzlich fallen. Die Schieferplatten, auf denen er stand, hallten von dem Aufprall wider. Sein Blut pochte gegen das Trommelfell. Die Angst war ihm jetzt fremd, sie lag so lange Zeit zurück. Schon vor Jahren hatte er endlich dieses namenlose Entsetzen überwunden, das ihn zum ersten Mal im Januar 1957 in einer Untersuchungszelle heimgesucht hatte.
    Damals waren einige Wochen seit seiner Festnahme vergangen. Seine Mutter hatte sich das Leben genommen. An der Beisetzung hatte er nicht teilnehmen dürfen. Der alte Polizist ließ die Schlüssel klirren und starrte ihm in die Augen. Alle wüßten, daß Seier schuldig sei, knurrte er. Die Schlüssel schlugen gegen die Zellenwand, wieder und wieder. Aksel habe keine Chance auf einen Freispruch. Ob er nicht lieber gleich gestehen wolle, und sei es nur, um die Schmerzen von Hedvigs Eltern zu mildern? Hatten diese Ärmsten nicht genug gelitten? Der Blick des Polizisten triefte nur so vor Verachtung. Er fuhr sich wütend mit dem Jackenärmel über die Augen, und Aksel wußte, daß alles verloren war. Die Angst hatte ihn vier Tage hindurch wach gehalten. Schließlich halluzinierte er und wurde mit Medikamenten in Schlaf versetzt.
    Aksel wurde zu einem Nachttier, das jeden Nachmittag einige Stunden ruhte und durch die Gitterstäbe Sterne zählte, wenn die anderen schliefen. Die Angst begleitete ihn in die Mietskaserne, wo er nach seiner überraschenden Freilassung auf acht Quadratmetern hauste. Sie verfolgte ihn über das Meer und quälte ihn immer wieder. Bis zu einem Morgen im März 1993. An diesem Morgen erwachte Aksel Seier erst am späten Vormittag und staunte darüber, daß er die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Zum ersten Mal in sechsunddreißig Jahren hatte der Polizist mit dem Schlüsselbund und den triefenden Augen ihn in Ruhe gelassen.
    » What the hell do you want?«
    Die Frau blieb stehen. Sie schien zu zögern. Obwohl sein Herz so heftig schlug und ihm das normale Atmen erschwerte, stellte er überrascht fest, daß sie gut aussah. Auf eine langweilige Art, als wollte sie eigentlich nicht auffallen. Sie mochte Mitte Dreißig sein und war ziemlich geschlechtsneutral gekleidet. Jeans und ein roter Pullover mit V -Ausschnitt. Turnschuhe. Aksel ertappte sich dabei, daß er sie musterte, daß er Bilder von ihr zur späteren Verwendung speicherte. Sie hatte braune Augen, das sah er, als sie zögernd auf ihn zukam und ihre Sonnenbrille durch eine normale Brille ersetzte. Ihre Haare waren dunkel und halblang und wellten sich auf eine Weise, die bei feuchtem Wetter vielleicht zu Locken führte. Sie hatte schmale Hände und lange Finger, das sah er, als sie sich unschlüssig durch die Haare fuhr. Aksel biß sich auf die Zunge.
    »Aksel Seier?«
    Die Angst drohte ihn zu ersticken. Die Frau sagte »Aksel Seier«, und so hatte er seinen Namen seit 1966 nicht mehr gehört. Er hieß nicht mehr Aksel Seier. Er hieß Äeksel Sseyer, gedehnt und rund. Nicht hart und bündig: Aksel Seier.
    » Who’s asking? « preßte er aus sich heraus.
    Sie reichte ihm die Hand. Er griff nicht danach.
    »Ich bin Inger Johanne Vik. Ich arbeite an der Universität und möchte mit Ihnen darüber sprechen, daß Sie damals unschuldig wegen Vergewaltigung und Kindsmordes verurteilt worden sind. Wenn Sie wollen, meine ich. Wenn Sie bereit sind, so viele Jahre danach noch darüber zu reden.«
    Noch immer hielt sie ihm ihre Hand hin. Darin lag ein gewisser Trotz, es war eine beharrliche Geste, die ihn dazu brachte, den Mund zu öffnen und Luft in seine Lunge hinunterzupressen, ehe er endlich danach griff.
    » Äeksel Sseyer«, sagte er mit heiserer Stimme. »So heiße ich jetzt.«
    Die Zuckerwattefrau kam vom Strand her auf sie zugestapft. Sie bog um den Zaun und keuchte laut und demonstrativ auf, ehe sie rief:
    » Female visitor, Aksel! I’ll say!«
    » Kommen Sie ins Haus«, sagte Aksel und kehrte dem rosa Pullover den Rücken zu.
    Inger Johanne wußte nicht, was sie erwartete. Sie hatte sich zwar ein klares Bild von Aksel Seiers Äußerem gemacht, aber sie hatte sich nie weiter überlegt, wie seine Umgebung aussehen mochte, wie sein Leben in den USA sich wirklich gestaltete. Sie blieb in der Türöffnung stehen. Das Wohnzimmer ging in eine Kochnische über und war mit Gegenständen vollgestopft. Es gab zwar nur einen kleinen Couchtisch, ein abgenutztes Sofa und einen grob getischlerten Küchentisch sowie einen einsamen Holzstuhl.

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