In kalter Absicht
Trotzdem wußte sie nicht, wohin sie ihre Füße setzen sollte. In der einen Ecke stand ein riesiger Hund. Sie zuckte zusammen. Erst danach erkannte sie, daß sein Fell Haar für Haar aus Holz geschnitzt war und daß seine gelben Augen aus Glas bestanden. In der gegenüberliegenden Ecke war unter der niedrigen Decke eine Galionsfigur befestigt. Diese Figur stellte eine großbusige Frau dar, mit vagem Blick und tiefroten, fast lila Lippen. Die Figur war viel zu groß für das Zimmer. Sie schien jeden Moment von der Wand fallen zu können. Und dann würde die Dame ein Heer von Spielzeugsoldaten zerschmettern, das sich auf zwei Quadratmetern des Fußbodens eine wilde Schlacht lieferte. Inger Johanne trat vorsichtig einen Schritt auf diese Armee zu und ging in die Hocke. Die Soldaten waren aus Glas. Winzige Blaujacken, individuell ausgeformte Soldaten, mit Bajonetten und Kanonen, Hüten und Auszeichnungen, im Kampf gegen Südstaatensoldaten in Grau.
»Wie … wie ungeheuer prachtvoll!«
Sie hob einen General hoch, er saß gelassen zu Pferde und hielt sich ein Stück abseits vom Getümmel. Sogar seine Augen waren deutlich, hellblau mit einer Andeutung von schwarzen Pupillen in der Mitte. Dem Pferd stand Schaum vor dem Maul, und sie hatte das Gefühl, die Körperwärme dieses schweißnassen Tieres wahrnehmen zu können.
»Wo … Haben Sie die selber gemacht? Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«
Aksel Seier gab keine Antwort. Inger Johanne hörte das Klappern von Kochtöpfen. Er war hinter dem Küchentisch versteckt.
»Kaffee?« fragte er nervös.
»Nein, danke. Doch … wenn Sie ohnehin welchen kochen. Aber nur für mich ist das nicht nötig.«
»Ein Bier.«
Das hörte sich nicht an wie eine Frage.
»Ja, bitte«, sagte sie zögernd. »Ein Bier trinke ich gerne.«
Aksel Seier richtete sich auf und schloß den Schrank mit einem Fußtritt. Er wirkte erleichtert. Der Kühlschrank grunzte widerwillig, als er zwei Bierdosen herausnahm. Das nervtötende Brummen klang in einem Stöhnen aus. Die Sonnenstrahlen zwängten sich durch das schmutzige Fenster. Der Staub tanzte in hellen Feldern, die sich auf dem Boden abzeichneten. Aus dem Nirgendwo hinter der Küche tauchte eine Katze auf. Sie schnurrte und rieb sich an Inger Johannes Waden. Dann verschwand sie durch eine Katzenklappe in der Haustür. Neben der Galionsfigur, hinter den Soldaten, stand eine Fischtonne mit verrosteten Dauben. Auf dem Deckel thronte eine Plastikpuppe in samischer Tracht. Die Farben, die früher einmal kräftig und klar gewesen sein mußten, waren zu müdem Pastell verblichen. Die Puppe starrte zerstreut zur gegenüberliegenden Wand hinüber. Diese Wand war von einer beeindruckenden Stickerei bedeckt, fast schon von einem Bilderteppich. Das Motiv setzte in der einen Ecke figurativ ein, ein Ritter aus dem Mittelalter war klar zum Tjost, er trug eine Rüstung und hob schon die Lanze. Dann ging das Bild rechts und oben non-figurativ in eine Farborgie über.
»Ich muß … haben Sie alle diese fantastischen Dinge gemacht?«
Aksel Seier starrte sie an. Langsam hob er seine Bierdose an den Mund. Er trank und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.
»Was haben Sie gesagt?«
»Haben Sie das hier …«
»Als Sie gekommen sind. Sie haben etwas davon gesagt, daß ich …«
»Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie unschuldig verurteilt worden sind.«
Sie sah ihn an und versuchte noch mehr zu sagen. Er trat einen Schritt zurück, als störe ihn das Sonnenlicht, das durch das Sprossenfenster in der Küche fiel. Er nickte kurz und schüttelte seine Stirnfransen, die ihm schwer und grau in die Augen hingen. Sie sah ihn an und bereute alles zutiefst.
Sie hatte ihm nichts zu bieten. Keine Genugtuung. Keine Wiederherstellung seiner Ehre. Keine Entschädigung für die verlorenen Jahre, die im Gefängnis und die danach. Inger Johanne war über das Meer gekommen, halbwegs aus einem Impuls heraus, ohne etwas anderes im Gepäck als die heilige Überzeugung einer alten Frau und einen Haufen unbeantworteter Fragen. Wenn es stimmte, daß Aksel Seier vor langer Zeit unschuldig verurteilt worden war, für das gemeinste Verbrechen überhaupt, das schmutzigste aller Vergehen – wie war ihm jetzt wohl zumute? Was mochte es für ein Gefühl sein, endlich, nach den vielen Jahren, jemanden sagen zu hören: Ich halte dich für unschuldig? Inger Johanne hatte dazu kein Recht. Sie hätte nicht kommen dürfen.
»Ich meine … es gibt Leute, die
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