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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Auge. Noch immer klaffte dort eine Wunde, in der das Blut nicht richtig geronnen war.
    »Du mußt nett zu dem Mann sein«, sagte Emilie und setzte sich neben Sarah aufs Bett. »Er bringt uns Essen und Geschenke. Es ist besser, wenn wir höflich sind. Ich glaube, er ist eigentlich ganz in Ordnung.«
    »Der h-h-hat mich geschl-l-lagen«, schluchzte Sarah und faßte sich ans Auge. »Er hat gesagt, er ist der neue …«
    Der Rest war nicht zu hören. Emilie fühlte sich ein wenig schwindlig. Das alte Gefühl kam wieder, der widerliche ekelhafte Gedanke, daß es hier im Keller keinen Sauerstoff mehr gab. Da war es das beste, sich hinzulegen und die Augen zu schließen.
    »Er hat gesagt, er ist Mamas neuer Freund«, flüsterte Sarah mit tränenerstickter Stimme.
    Emilie wußte nicht, ob sie geschlafen hatte. Sie schnalzte kurz mit der Zunge. Die Zunge schmeckte nach Schlaf und ihre Augenlider waren schwer.
    »Mama hat einen neuen Freund, und den wollte sie mo … mo … moho …«
    Emilie setzte sich langsam auf. Jetzt fiel ihr das Atmen wieder leichter.
    »Versuch ruhig zu atmen«, sagte sie. Das hatte ihre Mama ihr auch immer geraten, wenn sie so schrecklich geweint hatte, daß sie nichts sagen konnte. »Ruhig atmen. Ein und aus. Hier gibt es jede Menge Sauerstoff. Siehst du die Luke in der Decke?«
    Sie zeigte darauf, und Sarah nickte.
    »Durch die Luke schickt er uns Luft. Der Mann, meine ich. Er schickt eine Menge Sauerstoff zu uns in den Keller, damit wir atmen können, auch wenn es kein Fenster gibt. Du brauchst keine Angst zu haben. Du kannst mit meiner Barbie spielen. Ist deine Oma Busfahrerin?«
    Sarah schien total erschöpft zu sein. Ihr Gesicht war weiß und hatte rote Flecken, und ihre Augen waren so verschwollen, daß sie fast nicht mehr zu sehen waren.
    »Meine Oma ist Elektrikerin«, sagte sie, zum ersten Mal sagte sie etwas, ohne dabei zu weinen.
    »Meine Mutter ist tot«, sagte Emilie.
    »Meine Mutter hat einen neuen Freund«, sagte Sarah und wischte sich den Rotz ab.
    »Ist der nett?«
    »Ich weiß nicht, sie wollte ihn bald mitbringen …«
    »Nicht mehr weinen.«
    Emilie ärgerte sich. Der Mann hörte sie ja vielleicht. Er war zwar nicht im Zimmer, aber er konnte irgendwo ein Mikrofon versteckt haben. Emilie hatte sich das schon oft überlegt. Sie hatte so etwas im Fernsehen gesehen. Sie traute sich nicht so recht, danach zu suchen. Am Anfang, in der ersten Zeit, die sie hier verbracht hatte, war sie durch das Zimmer gelaufen und hatte etwas gesucht, was, wußte sie selber nicht so genau. Sie fand nichts. Aber manche Mikrofone waren so klein, daß man sie in einem Backenzahn verstecken konnte. Sie waren so klein, daß man sie nicht sehen konnte. Wenn man sie nicht unter ein Mikroskop legte. Der Mann saß jetzt vielleicht irgendwo und konnte sie beobachten und belauschen. Es gab auch winzige Kameras. So klein wie ein Nagelkopf, und in den Wänden hier steckten viele Nagelköpfe. Einmal hatte Emilie den Film »Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft« gesehen. Der Film handelte von einem verrückten, aber ziemlich lieben Papa, der auf dem Dachboden herumexperimentierte. Die Kinder faßten etwas an, was sie nicht anfassen durften, und wurden winzig klein. Wie Insekten. Niemand konnte sie sehen. Der Mann konnte sie und Sarah sehen. Sicher saß er jetzt irgendwo mit Kopfhörern vor einem Fernsehschirm und wußte genau, was sie machten.
    »Lächeln«, flüsterte sie.
    Jetzt fing Sarah wieder zu weinen an. Emilie hielt ihr den Mund zu.
    »Du mußt lächeln«, befahl sie und verzog ihre Lippen zu einem Grinsen. »Der kann uns sehen.«
    Sarah riß sich los.
    »Er hat gesagt, er ist der neue … neue … F-f-freund von …«
    Emilie kniff die Augen zusammen und legte sich ins Bett. Dort war fast nicht genug Platz für sie beide. Sie stupste Sarah an, drehte sich um und drückte ihr Gesicht gegen die Wand. Wenn sie die Augen ganz fest zukniff, schien es in ihrem Kopf hell zu werden. Sie konnte Dinge sehen. Sie konnte Papa sehen, der nach ihr suchte. Er trug ein blaues Flanellhemd. Er suchte zwischen den Wiesenblumen hinter dem Haus, er hatte eine Lupe und glaubte, jemand habe Emilie schrumpfen lassen.
    Emilie wünschte, Sarah wäre nie gekommen.

22
    An der Stelle, an der Emilie Selbus Ranzen gefunden worden war, auf einem stillen Pfad zwischen zwei starkbefahrenen Straßen, breitete sich jetzt ein Blumenmeer aus. Einige Blumen waren halb verwelkt, andere bereits tot. Hier und dort standen frische Blumen in

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