In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
dem Schild, als sei er ein Schatten spendender Baum. Sein dünner Schatten fiel wie ein Schlagbaum über die Motorhaube. Sie stellte den Motor ab. In der plötzlichen Stille gurgelte und zischte der Kompressor der Klimaanlage. Reacher öffnete
die Tür. Die Hitze traf ihn wie der Gluthauch eines Hochofens und verschlug ihm fast den Atem. Er blieb eine Sekunde wie vor den Kopf geschlagen stehen und wartete auf sie; dann gingen sie gemeinsam über den Parkplatz.
Der Erdboden war trocken und hart wie Beton. Am Rand des Parkplatzes wucherte Mesquitegestrüpp, und darüber wölbte sich ein in allen Richtungen bis zum Horizont wolkenloser Himmel. Reacher ließ Carmen einen halben Schritt vor sich hergehen, damit er sie beobachten konnte. Sie hielt die Augen halb geschlossen und den Kopf leicht gesenkt, als wolle sie nichts sehen oder nicht gesehen werden. Ihr Kleidersaum war auf Knielänge herabgerutscht. Sie bewegte sich graziös wie eine Tänzerin, hielt den Oberkörper sehr ruhig, sehr gerade, während ihre nackten Beine sich elegant bewegten.
Der Schnellimbiss hatte einen winzigen Vorraum mit einem Zigarettenautomaten und einer Anschlagtafel mit Handzetteln, auf denen für Immobilien, Ölwechsel, Kleinstadtrodeos und Waffenschauen geworben wurde. Nachdem sich die zweite Tür hinter ihnen geschlossen hatte, war es wieder kalt. Die beiden verweilten einen Augenblick in der köstlichen Kühle. Auf der Theke neben der Tür stand eine Registrierkasse, und eine müde Bedienung saß seitlich auf einem der Barhocker. In der Küche war eine Köchin zu sehen. An zwei Tischen saßen je zwei Männer, die aßen. Alle vier sahen auf und verharrten kurz, als läge ihnen etwas auf der Zunge, das sie dann doch nicht aussprachen.
Reacher musterte sie kurz, dann wandte er sich ab und führte Carmen zu einer Sitznische an der Rückwand des Raums. Er rutschte über das klebrige Kunstleder der Bank und legte den Kopf zurück, um sich von dem kalten Luftstrom aus einer Lüftungsöffnung an der Decke Kühlung zu verschaffen. Carmen nahm ihm gegenüber Platz. Als sie jetzt den Kopf hob, konnte er ihr erstmals richtig ins Gesicht sehen.
»Meine Tochter sieht mir überhaupt nicht ähnlich«, sagte sie. »Manchmal denke ich, dass das die grausamste Ironie überhaupt ist. Die starken alten Greer-Gene haben meine einfach niedergewalzt, das steht fest.«
Sie hatte ungewöhnlich schöne, leicht mandelförmige Augen mit langen Wimpern und eine schmale, gerade Nase, die mit ihren Augenbrauen ein Y bildete. Hohe Wangenknochen wurden von rabenschwarzem Haar umrahmt, das im Lampenlicht bläulich schimmerte. Ein wohlgeformter Mund, volle Lippen, nur ein Hauch von Lippenstift. Ihr durchscheinend leuchtender Teint war makellos glatt, und seine Farbe erinnerte an hellen Tee oder dunklen Honig. Tatsächlich war er viel heller als Reachers sonnengebräunte Unterarme – und dabei war er ein Weißer, kein Mexikaner.
»Wem sieht Ellie also ähnlich?«, fragte er.
»Denen«, entgegnete sie.
Die Serviererin kam mit Eiswasser, Bestellblock, hochgerecktem Kinn und verbissener Schweigsamkeit. Carmen bestellte Eiskaffee, Reacher heißen schwarzen Kaffee.
»Sie sieht überhaupt nicht wie mein Kind aus«, sagte Carmen. »Rosiger Teint, weizenblond, ein bisschen mollig. Aber sie hat meine Augen.«
»Glückliche Ellie«, meinte Reacher.
Sie lächelte schwach. »Danke. Und wenn’s nach mir geht, soll sie auch glücklich bleiben.«
Carmen hielt ihr kaltes Glas an die Wange. Dann nahm sie eine Papierserviette, um das Kondenswasser abzuwischen. Die Bedienung brachte die Getränke. Der Eiskaffee wurde in einem hohen Glas serviert, und sie schaffte es, etwas zu verschütten, als sie es abstellte. Reacher bekam seinen schwarzen Kaffee in einer Thermoskanne, zu der sie ihm einen Porzellanbecher über den Tisch schob. Sie ließ den Kassenbon mit der bedruckten Seite nach unten zwischen den Getränken liegen und ging, ohne ein Wort zu sagen.
»Sie müssen verstehen, dass ich Sloop einmal geliebt habe«, fuhr Carmen fort.
Als Reacher sich nicht dazu äußerte, starrte sie ihn forschend an.
»Stört es Sie, wenn ich über solche Dinge rede?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, aber in Wirklichkeit störte es ihn doch ein bisschen. Einzelgänger fühlen sich nicht unbedingt besonders wohl, wenn Fremde intime Details aus ihrem Leben preisgeben.
»Sie haben mir geraten, mit dem Anfang zu beginnen«, sagte sie.
»Ja«, bestätigte er. »Das stimmt.«
»Also werde
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