In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
ich’s tun«, sagte sie. »Ich habe ihn einmal geliebt. Das müssen Sie wissen. Und Sie müssen wissen, dass das nicht schwierig war. Er war groß, und er hat gut ausgesehen, und er hat viel gelächelt, und er war locker und lässig. Und wir waren jung, und wir waren Studenten, und L.A. ist eine besondere Stadt, in der alles möglich und nichts besonders wichtig zu sein scheint.«
Sie nahm einen Trinkhalm aus dem Behälter auf dem Tisch und streifte die Papierhülle ab.
»Und Sie müssen wissen, was ich mir dabei gedacht habe«, erklärte sie. »Tatsache ist, dass ich von falschen Voraussetzungen ausgegangen bin. Ich war keine Mexikanerin, die sich Sorgen darüber gemacht hat, ob eine weiße Familie sie akzeptieren würde, sondern ob meine Familie diesen Gringo akzeptieren würde. Das war die Frage, die mich bewegt hat. Ich komme aus einer Familie, die im Napa Valley vierhundert Hektar Land besitzt. Wir leben schon ewig dort und waren immer die reichsten Leute, die ich kannte. Und die kultiviertesten. Malerei, Geschichte und Musik haben in unserem Leben eine große Rolle gespielt. Wir haben für Museen gespendet. Wir haben Weiße als Arbeiter beschäftigt. Deshalb habe
ich mir Gedanken darüber gemacht, was meine Leute zu einer Heirat mit einem Weißen sagen würden.«
Reacher nahm einen Schluck Kaffee. Er war alt und abgestanden, aber damit musste er sich abfinden.
»Und was haben sie dazu gesagt?«
»Sie sind fast ausgeflippt. Ich habe sie für plemplem gehalten. Jetzt weiß ich, dass sie nur vernünftig waren.«
»Wie ist’s weitergegangen?«
Carmen sog an ihrem Trinkhalm. Zog eine Serviette aus dem Spender und tupfte ihre Lippen ab. An der Serviette blieben schwache Lippenstiftspuren zurück.
»Nun, ich war schwanger«, fuhr sie fort. »Und das hat alles umso schlimmer gemacht. Meine Eltern sind sehr fromm, sehr konservativ, und sie haben sich im Prinzip von mir losgesagt. Sie haben mich enterbt. Richtig wie in viktorianischen Zeiten, mit einem Bündel Lumpen in den Schnee hinausgejagt, nur hat es natürlich nicht geschneit, und das Bündel Lumpen war in Wirklichkeit ein Koffer von Louis Vuitton.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Wir haben geheiratet. Von unseren Angehörigen ist niemand gekommen, nur ein paar Studienfreunde. Wir haben noch ein paar Monate in L.A. gelebt und unser Studium abgeschlossen. Wir sind dort geblieben, bis ich im achten Monat war. Es war eine schöne Zeit. Wir waren jung und verliebt.«
Er goss sich einen zweiten Becher Kaffee ein.
»Aber?«, fragte er.
»Aber Sloop konnte keinen Job finden. Und ich habe allmählich gemerkt, dass er sich nicht wirklich darum bemühte, Arbeit zu finden. Einen Job zu suchen gehörte nicht zu seinem Plan. Für ihn waren die vier Jahre im College eine lustige Zeit, aber danach hieß es, in den Schoß der Familie zurückzukehren, um Daddys Firma zu übernehmen. Sein Vater
wollte sich allmählich aus dem Geschäft zurückziehen. Mir hat diese Idee nicht gefallen. Ich dachte, wir würden einen Neuanfang wagen, auf eigenen Füßen stehen, wissen Sie, auf beiden Seiten eine neue Generation verkörpern. Ich hatte das Gefühl, einiges aufgegeben zu haben, und fand, das sei auch ihm zuzumuten. Deshalb haben wir viel gestritten. Ich konnte nicht arbeiten, weil ich hochschwanger war, und hatte kein eigenes Geld. Dann konnten wir die Miete nicht mehr bezahlen, was bedeutete, dass er letztlich seinen Willen durchsetzte: Wir gingen nach Texas zurück und zogen in das große alte Haus, wo wir von seinen Eltern, seinem Bruder und seinen Verwandten umgeben waren, und ich lebe noch immer dort.«
Ihr Tonfall klang wieder resigniert. Der Tag, an dem ihr Leben sich für immer verändert hatte.
»Und?«, fragte er.
Sie sah ihm in die Augen. »Und es war, als tue die Erde sich unter mir auf und lasse mich geradewegs in die Hölle stürzen. Der Schock war so groß, dass ich gar nicht darauf reagieren konnte. Die Familie behandelte mich seltsam, und am zweiten Tag wurde mir plötzlich klar, was hier ablief. Ich war mein Leben lang eine Prinzessin gewesen und hatte mich in L.A. unter Zehntausenden von Hippies gleichberechtigt gefühlt, aber jetzt war ich plötzlich nur eine farbige Bohnenfresserin. Das hat mir nie jemand offen ins Gesicht gesagt, aber es war so offensichtlich. Sie haben mich gehasst, weil ich die mexikanische Nutte war, die sich ihren lieben Jungen gekrallt hatte. Sie waren bemüht höflich, weil sie wohl hofften, Sloop werde zur Vernunft kommen
Weitere Kostenlose Bücher