In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
Mary Ellen getauft«, fuhr sie fort.
»Sie?«
»Die Familie meines Mannes.«
»Sie hat über den Namen Ihrer Tochter entschieden?«
»Das hat sich einfach so ergeben, wissen Sie. Ich konnte nichts dagegen machen.«
»Welchen Namen hätten Sie ihr gegeben?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, vielleicht Gloria. Ich fand sie glorios.«
Dann schwieg sie wieder.
»Aber sie heißt Mary Ellen«, sagte er.
Sie nickte. »Meistens wird sie mit dem Kurznamen Ellie gerufen. Manchmal auch Miss Ellie.«
»Und sie ist sechseinhalb?«
»Aber wir sind weniger als sieben Jahre verheiratet. Das habe ich Ihnen auch schon erzählt, nicht? Nachrechnen können Sie selbst. Ist das ein Problem?«
»Nachzurechnen?«
»Über die Bedeutung dieser Zahlen nachzudenken.«
Er schüttelte den Kopf, sah weiter nach vorn. »Für mich kein Problem. Weshalb sollte es eins sein?«
»Für mich war das auch keins«, sagte sie. »Aber es erklärt, warum meine Position damals so schlecht war.«
Er äußerte sich nicht dazu.
»Wir hatten auf allen möglichen Gebieten einen schlechten Start«, erklärte sie. »Seine Familie und ich.«
Das sagte sie in dem trübseligen Tonfall eines Menschen, der von einer weit zurückliegenden Tragödie berichtet: einem
Verkehrsunfall, einem Flugzeugabsturz, einer verhängnisvollen Diagnose. Als spräche sie von dem Tag, an dem ihr Leben sich für immer verändert hatte.
»Wer sind sie?«, fragte er.
»Die Greers«, erwiderte sie. »Eine der ältesten Familien im Echo County. Sie sind hier, seit Texas damals gestohlen wurde. Vielleicht haben sie sogar mitgeholfen, es zu stehlen.«
»Wie sind sie?«
»Genau wie man sie sich vorstellt«, antwortete sie. »Alte weiße Texaner, schon immer reich, ehemalige Öl- und Viehbarone, im Fluss getaufte Protestanten, auch wenn sie nie in die Kirche gehen oder darüber nachdenken, was der Herr ihnen vielleicht sagen will. Sie gehen zum Vergnügen auf die Jagd. Der Vater ist vor einiger Zeit gestorben, die Mutter lebt noch, es gibt zwei Söhne und überall in der näheren Umgebung Cousins und Cousinen. Mein Mann ist Sloop Greer, der ältere Sohn.«
»Sloop?«, fragte Reacher.
Sie lächelte zum ersten Mal, seit sie aus dem Straßengraben herausgefahren war. »Sloop«, wiederholte sie.
»Was ist das für ein komischer Name?«
»Der hat bei den Greers Tradition«, sagte sie. »Irgendein Vorfahr, glaube ich. Wahrscheinlich hat er am Alamo gegen meine Vorfahren gekämpft.«
»Klingt wie ein Segelboot. Wie heißt der jüngere Sohn? Jacht? Schlepper? Passagierschiff? Öltanker?«
»Robert«, sagte sie. »Alle nennen ihn Bobby.«
»Sloop«, murmelte Reacher. »Der ist mir neu.«
»Mir war er auch neu«, erklärte Carmen. »Alles war mir neu. Früher hat mir sein Name gefallen. Hat ihn irgendwie aus der Masse hervorgehoben.«
»Das kann ich mir denken.«
»Ich habe ihn in Kalifornien kennen gelernt«, sagte sie. »Wir haben beide an der UCLA studiert.«
»Außerhalb seines Reviers«, bemerkte Reacher.
Das Lächeln verschwand. »Richtig. Nur so konnte es passieren, das ist mir jetzt klar. Hätte ich ihn hier kennen gelernt, wo die ganze Bande hockt, wär’s nie passiert. Niemals! Das garantiere ich Ihnen. Immer unter der Voraussetzung, dass ich überhaupt hierher gekommen wäre.«
Carmen verstummte und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Sonnenglast. Links neben der Straße stand ein aus glänzend poliertem Aluminium errichtetes Gebäude, das flimmernde Hitzewellen in immer neue Fragmente auflösten.
»Das ist der Schnellimbiss«, sagte sie. »Dort bekommen wir bestimmt einen Kaffee.«
»Merkwürdiger Schnellimbiss, wenn’s dort keinen gäbe.«
»Hier gibt’s viele merkwürdige Dinge«, sagte sie.
Der Schnellimbiss stand leicht erhöht in der Mitte eines viel zu großen gewalzten Platzes, der als Parkplatz diente. Den einzigen Schatten warf ein Schild auf einem hohen Pfosten. In der Nähe des Eingangs, aber doch zwanzig Meter voneinander entfernt, standen zwei achtlos geparkte Pick-ups.
»Okay«, sagte sie zögernd, als sie den Fuß vom Gas nahm. »Jetzt werden Sie abhauen. Sie rechnen sich aus, dass einer der Kerle mit den Pick-ups Sie mitnehmen wird.«
Er äußerte sich nicht dazu.
»Wollen Sie’s tun, tun Sie’s später, okay?«, sagte Carmen. »Bitte? Ich möchte nicht allein in dieser Bude zurückbleiben.«
Sie wurde noch langsamer, bog von der Straße ab und holperte über den unebenen Boden. Parkte neben dem Pfosten mit
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