In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
gemacht zu haben. Je mehr sie also auf mir herumhacken, desto mehr spielt er den liebenden Ehegatten. Er führt sie irre. Er kauft mir Sachen. Er hat mir diesen Ring geschenkt.«
Sie hielt ihre rechte Hand mit elegant gespreizten Fingern hoch, führte ihm den Platinring mit dem großen Solitär vor. Das Ding sah verdammt teuer aus. Reacher hatte noch nie einen Brillantring erworben und keine Ahnung, was einer kostete. Viel, vermutete er.
»Er hat mir Pferde gekauft«, sagte Carmen. »Sie wussten, dass ich mir Pferde wünschte, und er hat mir welche besorgt, um vor ihnen gut dazustehen. Aber in Wirklichkeit, um meine blauen Flecken zu tarnen. Das war sein Geniestreich. Eine permanente Ausrede. Er zwingt mich dazu, den anderen zu erzählen, ich sei vom Pferd gefallen. Sie wissen, dass ich im Reiten noch Anfängerin bin. Und hier im Rodeoland erklärt das alles bis hin zu Prellungen und Knochenbrüchen. Die anderen glauben, das gehöre dazu.«
»Er hat Ihnen Knochen gebrochen?«
Sie nickte und fing an, auf Teile ihres Körpers zu deuten, wobei sie sich in der engen Nische drehte und wand, stumm ihre Verletzungen zählte und einige Male zögerte, als könne sie sich nicht an alle erinnern.
»Zuerst meine Rippen«, sagte sie. »Er tritt mich, wenn ich am Boden liege. Das tut er oft, wenn er wütend ist. Meinen linken Arm, indem er ihn verdreht hat. Das rechte Schlüsselbein. Meinen Unterkiefer. Drei meiner Zähne sind Implantate.«
Reacher starrte sie an.
Sie zuckte mit den Schultern. »Die Leute in der Notaufnahme halten mich für die schlechteste Reiterin in der Geschichte des Westens.«
»Das glauben sie?«
»Vielleicht tun sie ja nur so.«
»Und seine Mutter und der Bruder?«
»Ebenso«, sagte sie. »Die beiden sehen natürlich keinen Anlass, an seinen Behauptungen zu zweifeln.«
»Warum zum Teufel sind Sie dann noch dort? Warum sind Sie nicht gleich nach dem ersten Mal abgehauen?«
Sie seufzte, schloss die Augen und wandte den Kopf ab. Legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch und drehte sie dann um, sodass ihre Handflächen nach oben zeigten.
»Ich kann’s nicht erklären«, flüsterte sie. »Das kann nie jemand erklären. Das muss man selbst durchgemacht haben. Ich hatte jegliches Selbstvertrauen verloren. Ich hatte ein Neugeborenes und kein Geld. Nicht einen Cent. Ich hatte keine Freunde. Ich wurde ständig überwacht. Ich konnte nicht mal ungestört telefonieren.«
Er schwieg. Carmen öffnete die Augen und sah ihm ins Gesicht.
»Und vor allem konnte ich nirgends hin«, sagte sie.
»Nach Hause?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Daran habe ich nicht einmal gedacht«, erwiderte sie. »Geschlagen zu werden war immer noch besser, als mit einem weißen, blonden Baby in die Arme meiner Familie zu flüchten.«
Er sagte nichts.
»Und hat man die erste Chance verpasst, bekommt man keine zweite mehr«, sagte sie. »So ist’s einfach. Alles wird nur schlimmer. Als ich später an Flucht gedacht habe, besaß ich noch immer kein Geld, hatte noch immer ein Baby. Danach war die Kleine ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre alt. Der Zeitpunkt ist niemals ideal. Bleibt man beim ersten Mal, sitzt man für immer und ewig fest. Ich wünschte, ich wäre abgehauen, aber ich bin leider geblieben.«
Als sie ihn ansah, lag in ihrem Blick eine stumme Bitte.
»Das müssen Sie mir einfach glauben«, sagte Carmen. »Sie wissen nicht, wie das ist. Sie sind ein Mann, Sie sind groß und stark. Wenn jemand Sie schlägt, schlagen Sie zurück. Sie sind ungebunden, gefällt’s Ihnen irgendwo nicht, ziehen Sie weiter. Für mich ist alles anders. Selbst wenn Sie das nicht verstehen können, müssen Sie’s glauben.«
Er schwieg.
»Ich hätte gehen können, wenn ich Ellie zurückgelassen hätte«, fuhr sie fort. »Sloop hat mir erklärt, wenn ich ihm das Baby überließe, würde er mir den Flug zu jedem beliebigen Ort bezahlen. Erster Klasse. Er hat gesagt, er würde sofort eine Limousine mit Chauffeur aus Dallas kommen lassen, die mich zum Flughafen bringt.«
Er schwieg weiter.
»Aber das hätte ich nie getan«, sagte Carmen leise. »Ich meine, wie hätte ich das über mich bringen können? Also hat Sloop so getan, als sei das meine Entscheidung. Als sei ich damit einverstanden. Als hätte ich den Wunsch danach. Also prügelt er mich weiter. Schlägt mich, tritt mich, ohrfeigt mich. Erniedrigt mich sexuell. Jeden Tag, selbst wenn er gerade mal nicht wütend auf mich ist. Und ist er wütend, rastet
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