In Liebe, Rachel
einen Moment, bleib dran!«
»Jessie!«
Zu spät, Jessie legte den Hörer ab, und Jo hörte sie fortgehen. Jessie berichtete jetzt bestimmt Grace’ Großmutter Leah von den neuesten Ereignissen, die die letzten drei Monate ausschließlich damit verbracht hatte, kranke Angehörige in Krankenhäusern zu besuchen.
Jo ließ sich gegen die Ziegelwand sinken. Eine Spitzenmutter würde sie abgeben. Und war das nicht abzusehen gewesen? Jo war ohne Vater im Schatten einer Hühnerverarbeitungsfabrik aufgewachsen und hatte Kleider von der Heilsarmee getragen. Diesen Babyhunger würde sie garantiert nie verspüren, hatte sie Rachel einmal gesagt.
»Hallo, da bin ich wieder.« Jessie hantierte mit dem Hörer. »Bist du noch dran?«
Nein, ich habe mich ohne Grace in Richtung Cayman-Inseln abgesetzt.
»Also, ich habe eine Mappe im Büro meines Onkels gefunden, die mit ›Grace‹ beschriftet ist.«
»Du hast doch Leah und Abe nichts erzählt?«
»Bist du verrückt? Als ob die beiden nicht schon genug zu bewältigen hätten. Also, hier sind eine Geburtsurkunde, einige Zeugnisse …«
»Wie heißt die Schule?«
Nachdem Jessie den Namen genannt hatte, blätterte sie weiter durch die Unterlagen. »Wir haben … das hier müsste ein Impfpass sein. Er liegt bei den Sachen, die Rachel für Grace’ Anmeldung in der Schule eingeschickt hatte. Und hier ist eine Visitenkarte … ich kenne den Mann. Dr. Migliore. Das muss Grace’ Kinderarzt sein. Willst du seine Telefonnummer?«
»Was glaubst du?«
»Okay. Hier ist Grace’ Krankenversicherungskarte.«
»Großartig.«
Jessie hielt inne. »Ich schätze, das hätte ich dir alles besser mitgeben sollen.«
»Hey, die haben dir ja auf dieser schicken Schule in der Stadt doch was beigebracht.«
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du die Unterlagen so
schnell
brauchen wirst.«
»Süße, im Moment habe ich hier einen Wachmann am Hals, und auch wenn er in seiner Uniform recht heiß aussieht, habe ich gerade nicht den Kopf frei, ihn aufzureißen.« Jo drehte sich auf dem Absatz um, um den Wachmann von oben bis unten zu mustern. »Ich gehe jetzt wieder rein, um nach Grace zu sehen. Du wirst diese Nummer anrufen und dem Tro … – der Dame am Empfang all diese Informationen geben. Dann muss ich vielleicht nicht die Nacht unter einer nackten Glühbirne bei endlosen Befragungen verbringen – und auch das Jugendamt wird seine dreckigen Finger von Grace lassen. Okay?«
Jo gab Jessie die Nummer der Notaufnahme, klappte das Telefon zu, straffte die Schultern und rauschte an dem Wachmann vorbei. Die automatischen Türen öffneten sich zischend, und schon hörte Jo das Telefon am Empfang klingeln. Der Troll nahm ab und warf Jo dann einen bedeutsamen Blick zu. Jessie hatte sich offenbar ins Zeug gelegt.
Jo näherte sich dem Empfangstresen und stellte sich ein Samtband mit einem adretten Portier dahinter vor. Sie wusste, wie sie mit unsichtbaren Barrieren umzugehen hatte. Schließlich hatte sie den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, diese einzureißen. Deshalb ging sie einfach mit größtmöglicher Selbstsicherheit weiter, an dem Troll vorbei, um die Ecke und durch die Empfangshalle. Ihre Schultern verspannten sich. Doch niemand folgte ihr, niemand hielt sie auf. Als sie sich Grace’ Zimmer näherte, traten gerade der Police Officer und die beiden Sozialarbeiter ins Gespräch vertieft auf den Gang.
Die Frau in der Gruppe erblickte sie und kam ihr entgegen. »Sie sind Mrs Marcum?«
»
Ms
Marcum.«
»Ich bin Bonnie Spencer vom Sozialdienst.« Ernster Blick, baumelnde Ohrringe – das wandelnde Klischee. »Mein Kollege und ich haben gerade mit Grace gesprochen.«
»Entspricht es Ihren Richtlinien, eine Minderjährige allein, ohne einen Elternteil oder einen Vormund zu befragen?«
Das Lächeln der Frau verriet ihre Anspannung. »Da sie ja weder noch zu haben scheint, sind wir das Risiko eingegangen.«
Touché!
»Meine Herren« – die Sozialarbeiterin nickte ihren Kollegen zu –, »würdet ihr uns einen Augenblick allein lassen?«
Die Männer entfernten sich, und Bonnie Spencer vom Sozialdienst musterte Jo diskret, aber gründlich von oben bis unten. Sie zeigte damit, dass bestimmte Sozialarbeiter offensichtlich auf dieselbe Schule gingen, wo man ihnen beibrachte, den Wert eines Menschen durch das Lesen der Kleidung, der Körpersprache und der Mimik in Stresssituationen abzuschätzen – und ganze Familien durch die Rückschlüsse aus diesen Beobachtungen zu
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